Corona verschärft das Problem

Mit Handicap auf Jobsuche: Arbeitsagentur in SH fordert mehr Mut

Mit Handicap auf Jobsuche: Arbeitsagentur in SH fordert mehr Mut

Mit Handicap auf Jobsuche: Arbeitsagentur fordert mehr Mut

SHZ
Kiel
Zuletzt aktualisiert um:
Arbeit mit Lupe: Annika Kruse (l.) ist bei ihrem Job in der Logopädiepraxis von Christine Walker auf Hilfsmitteln angewiesen. Foto: Michael Ruff/shz.de

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Viele Arbeitgeber schrecken davor zurück, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Doch ein Beispiel aus Kiel zeigt, wie gut so ein Arbeitsverhältnis funktionieren kann.

Wie alles anfing, weiß Christine Walker noch genau. „Ich war an einem total verregneten Tag im Mai mit meinem Hund unterwegs, als mein Handy klingelte und Frau Kruse dran war“, sagt die Logopädin, die damals eine Mitarbeiterin für ihre Praxis sucht. „Annika hat dann gleich gesagt, dass sie eine Behinderung hat – das fand ich super offen und sympathisch.“

Ein Dreivierteljahr später sitzen Christine Walker und Annika Kruse in der Praxis in Kiel. Im Juli hat Walker ihre neue Mitarbeiterin eingestellt. 15 Stunden arbeitet die in der Woche – und ist damit super zufrieden. „Ich habe mir hier die Arbeit gut einteilen können“, sagt die 45-Jährige, die eine schwere Sehbehinderung hat. „Was ich sehen kann, ist abhängig von viele Faktoren, wie Licht, Umgebung, aber auch der Beanspruchung“, sagt Kruse. „Manchmal sind die Bilder, die ich wahrnehme, einfach nur chaotisch.“

Passgenauer Arbeitsplatz ist wichtig

Die Logopädin kann deswegen nicht voll arbeiten – Hausbesuche, bei denen sie auf ein Auto angewiesen wäre, fallen flach. „Dafür habe ich mich in der Praxis gut eingerichtet“, sagt sie. „Annika kommt hier gut zurecht und die Zusammenarbeit klappt echt super“, sagt ihre Chefin Christine Walker.

Viele Arbeitgeber scheuen sich noch immer, Behinderte einzustellen. Laut Agentur für Arbeit sind in Schleswig-Holstein rund 4900 Menschen mit Handicap auf Jobsuche, das sind rund sechs Prozent aller Arbeitslosen. Und das Problem hat sich in der Pandemie verschärft. Im Vergleich zum Ende des Jahres 2019 ist die Zahl der Behinderten ohne Job um 396 oder 8,8 Prozent angestiegen. Bei den Arbeitslosen ohne Handicap liegt der Anstieg bei 1,5 Prozent. Dabei haben 53,8 Prozent der Arbeitslosen mit Behinderung eine abgeschlossene Berufsausbildung besitzen, bei allen Arbeitslosen sind es nur 43,6 Prozent.

„Wir können es uns nicht erlauben, dieses Potenzial brach liegen zu lassen“, sagt Petra Eylander, Chefin der Arbeitsagentur in Kiel. Das habe nicht in erster Linie etwas damit zu tun, dass für Behinderte mit Job kein Arbeitslosengeld fällig werden, sondern damit, dass es für gute Jobs genug qualifizierte Arbeitnehmer gebe. „Oft fragen die Arbeitgeber aber zuerst, was die Arbeitsuchenden alles nicht können“, sagt Eylander. „Gerade die Einstellung von Frau Kruse zeigt jedoch, dass Menschen mit Behinderungen genauso leistungsfähig sind wie andere Mitarbeiter – wenn sie den richtigen Arbeitsplatz bekommen.“

Viele Arbeitgeber haben Vorbehalte

Doch noch immer schrecken viele Arbeitgeber davor zurück, Menschen mit Behinderungen einen Job zu geben. Sie fürchten, dass die Mitarbeiter häufiger krank sind oder wegen ihrer Behinderung nicht mithalten können. Vorbehalte hat auch Annika Kruse gespürt, als sie nach einer Auszeit wieder auf Jobsuche ging. „Bei den Vorstellungsgesprächen ging es immer sehr schnell um meine Behinderung und ich wurde gefragt, was ich nicht kann“, erzählt Kruse, die dann antwortet: „Das weiß ich nicht und muss es ausprobieren.“ Denn ihre Sehleistung verändere sich.

Doch kein Arbeitgeber hat den Mut, das mit ihr auszuprobieren – nur Christine Walker. „Wir vertrauen uns. Die fachliche Kompetenz ist voll gegeben.“ Und beide wissen natürlich auch, dass sich die Praxis am Ende wirtschaftlich rechnen muss.

Vorteile liegen auf der Hand

Für die beiden kam da die Arbeitsagentur gerade recht, denn die hat in einer dreimonatigen Probearbeitsphase Kruses Gehalt bezahlt. „Das ist ein gutes Mittel, damit beide Seiten prüfen können, ob sie zueinander passen. Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht und die meisten solcher Arbeitsverhältnisse gehen danach weiter“, sagt Eylander, die die Arbeitgeber auffordert, noch mehr Mut zu haben und Menschen mit Behinderungen einzustellen.

Annika Kruse ist durch den neuen Job aufgeblüht. „Das hat nicht nur damit zu tun, dass ich wieder mein eigenes Geld verdiene“, sagt die Logopädin. „Es ist einfach ein schönes Lebensgefühl, eine Arbeit leisten zu können, die für mich sinnvoll und menschlich bereichernd ist.“

Und für den Job sei ihre Behinderung sogar manchmal ein Vorteil. Wenn Kinder nicht richtig sprechen können, sage sie denen schon mal, dass sie das Gefühl kenne. „Bei dir will die Zunge nicht richtig, bei mir die Augen nicht.“ Und auch bei älteren Patienten, die in Therapie seien, könne es Vertrauen schaffen, wenn auch der Therapeut die Erfahrung mit einer Behinderung habe.

Vertrauen hat Annika Kruse aber vor allem zu ihrer Chefin Christine Walker. Die sucht übrigens gerade noch eine Mitarbeiterin für bis zu 15 Stunden in der Woche. Und wenn wieder an einem regnerischen Tag ihr Handy klingeln sollte, und jemand sagt, dass er gern bei ihr anfangen möchte, aber eine Behinderung habe – dann ist das für die Logopädin kein Hinderungsgrund. „Wenn alles passt, würde ich immer wieder Menschen mit Behinderung einstellen.“

 

Mehr lesen