Zu hart und ungerecht

Kieler Juristen kritisieren neues Kinderpornografie-Gesetz

Kieler Juristen kritisieren neues Kinderpornografie-Gesetz

Kieler Juristen kritisieren neues Kinderpornografie-Gesetz

SHZ
Kiel
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Eine Ermittlerin sichtet Bilder, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa/shz.de

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Der Besitz von Kinderpornografie ist seit vergangenem Jahr ein Verbrechen. Das sorgt nun für Kritik, denn wird in einer WhatsApp-Gruppe ein solches Bild gepostet, müssen alle Empfänger vor Gericht.

Der Angeklagte ist verheiratet, Vater von vier Kindern. Draußen vor dem Kieler Amtsgericht lächelt er freundlich, drinnen muss er sich für den Besitz von kinderpornografischen Schriften verantworten. Er soll 2020 zahlreiche strafbare Aufnahmen auf seinem iPhone gespeichert haben, 1500 Fotos und über 100 Videoclips. In der Anklage ist beschrieben, was die Dateien zeigen: Kleinkinder, an denen sich Erwachsene oral, vaginal oder anal vergehen.

Hatte der Angeklagte die Dateien bereits gelöscht?

Der Verteidiger bittet Richterin und Staatsanwältin um ein Rechtsgespräch. Dabei geht es um die Frage, ob die von Experten und Ermittlern gefundenen Daten wiederhergestellt werden mussten, also bereits gelöscht waren oder nicht. Die Richterin hält fest: „Aus dem Kontext des Gutachtens ergibt sich, dass lediglich Teile wiederhergestellt wurden, eine Zuordnung ist aber tatsächlich nicht ausdrücklich dargelegt.“ Der Prozess am Donnerstag wurde vertagt, beim nächsten Termin soll ein Sachverständiger als Zeuge gehört werden.

Neue Gesetzgebung verschärft die Strafen bei Kinderpornografie

Obwohl dieser Fall noch unter die alte Gesetzgebung zum Besitz von Kinderpornografie fällt, zeigt er bereits jetzt exemplarisch, wie wohl künftig alle Verfahren in diesem Bereich ablaufen werden: Um jedes Detail wird die Verteidigung erbittert ringen.

Der Grund: Am 1. Juli 2021 ist das vom Bundestag beschlossene Gesetzespaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Kraft getreten. Verbreitung, Erwerb und Besitz von Kinderpornografie wurden zum Verbrechen hochgestuft, die Mindeststrafe beträgt ein Jahr.

Experten warnten die Bundesregierung vor dem Gesetzespaket

Was zunächst im Sinne der Abschreckung sinnvoll erscheint, sorgt in der Richterschaft bundesweit für Stirnrunzeln, weil der Gesetzgeber keine minderschweren Fälle mehr zulässt. Myriam Wolf, Richterin am Kieler Amtsgericht, sagt: „Meiner Meinung nach ist es nicht verständlich, warum der Spielraum, den Gerichte sonst gerade bei schweren Delikten im Einzelfall haben, beim Besitz von kinderpornografischen Schriften vorenthalten wird.“ Sie sehe da eine „gewisse populistischen Komponente“.

Mit dieser Sichtweise steht Wolf nicht allein. In den Anhörungen zum Gesetzentwurf findet sich scharfe Kritik der Sachverständigen, die von der Bundesregierung um eine Stellungnahme gebeten worden waren. Die Strafrahmenverschärfung gehe weit über das Ziel hinaus, schrieb beispielsweise Julia Bussweiler von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main.

Bei anderen Sexualdelikten gibt es weiter minderschwere Fälle

Wolf erklärt: „Bei Verbrechen wie Raub und anderen Sexualdelikten gibt es den minderschweren Fall, auch beim Totschlag.“ Zudem sei widersprüchlich, dass der sexueller Missbrauch von Kindern ohne Körperkontakt, also beispielsweise, wenn ein Kind dazu gedrängt werde, sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen (§ 176a StGB) weiter ein Vergehen mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten bleibe.

„Hier besteht ein gleichartiger Unrechtsgehalt, es liegt aber kein Verbrechen vor, was erklärungsbedürftig ist“, sagt Wolf und fügt hinzu: „Ich kann mir vorstellen, dass es deswegen zu einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht kommt, zum Beispiel durch einen Verurteilten, der argumentiert, dass die Umstände seines konkreten Falles beim Besitz von Kinderpornografie den Weg zu einer Betrachtung als minderschweren Fall eröffnen müssten.“

Strafverteidiger: „Gesetzgeber wird dem Einzelfall nicht mehr gerecht“

Um was für einen Fall es dabei gehen könnte, skizziert der renommierte Kieler Strafverteidiger Michael Gubitz: In einer seiner WhatsApp-Gruppen erhält ein ansonsten unbescholtener Bürger ein oder zwei Bilder mit kinderpornografischem Material, die er nicht löscht, weil er die Dateien in der Masse der Nachrichten gar nicht registriert hat.

Gubitz: „Nach der neuen Gesetzeslage ist eine Einstellung oder Erledigung per Strafbefehl keine Option mehr, es wird immer zu einer Hauptverhandlung kommen.“ Ist der Betroffene Beamter, drohe ihm bei einer Verurteilung der Verlust des Jobs. Das Fazit von Gubitz: „Der Gesetzgeber wird dem Einzelfall nicht mehr gerecht und hat die Strafjustiz im Hinblick auf ein angemessenes Strafmaß vor ein unlösbares Problem gestellt.“

Tech-Giganten spüren kinderpornografische Bilder und Filme auf

Der Angeklagte vor dem Kieler Landgericht hatte ein Bild beim Dienst „Microsoft OneDrive“ hochgeladen. Und Microsoft tat, was alle Tech-Giganten in den USA tun, wenn ihre Algorithmen Kinderpornografie aufspüren: Sie melden den Fund samt IP-Adresse dem „National Center for Missing and Exploited Children“, das seinerseits das BKA informiert. Das passiert immer häufiger – in Schleswig-Holstein ist in den vergangenen fünf die Zahl der Ermittlungsverfahren zu Kinderpornografie um 185 Prozent gestiegen.

„Massive Mehrbelastung der Staatsanwaltschaften und Gerichte“

Künftig muss es nun zu jedem Fall eine Hauptverhandlung geben. Damit dürfte eintreffen, wovor Barbara Stockinger, Co-Vorsitzende des Deutscher Richterbundes, den Gesetzgeber in der Anhörung zu dem Gesetzespaket eindrücklich gewarnt hatte: Die Anhebung des Strafrahmens werde eine massive Mehrbelastung der ohnehin überlasteten Staatsanwaltschaften und Gerichte zur Folge haben.

Sorgt Schleswig-Holstein jetzt für mehr Richter-Personal?

Womit die Frage im Raum steht, ob das Land dann auch für mehr Personal sorgt. Oliver Breuer, Sprecher im Kieler Justizministerium, sagt: „Die Auswirkungen der Gesetzesänderung beobachten wir genau. Für belastbare Anhaltspunkte ist es noch zu früh. Sofern sich ein zusätzlicher Personalbedarf bei den Strafgerichten abzeichnen sollte, wird in einer Gesamtschau aller von den Gerichten zu bearbeitenden Rechtssachen zu bewerten sein, ob zusätzliches Personal benötigt oder das bereits vorhandene Personal in anderer Form eingesetzt werden kann.“

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