Geflüchtete in Harrislee

Najib Kamalis Bruder bleibt bei Kabul, um die Eltern nicht allein zu lassen

Najib Kamalis Bruder bleibt bei Kabul, um die Eltern nicht allein zu lassen

Najib Kamalis Bruder bleibt bei den Eltern

SHZ
Harrislee
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Najib Kamali lebt und arbeitet in Harrislee. Sein Bruder hat in der Heimat Afghanistan für den Präsidenten gearbeitet. Foto: Michael Staudt/shz.de

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Afghanische Familien in Harrislee haben Angst um ihre Angehörigen in der Heimat, die von den Taliban bedroht werden. Einer von ihnen war Sicherheitsmann für den geflohenen afghanischen Präsidenten.

33 Menschen mit afghanischer Staatsangehörigkeit leben derzeit in Harrislee. Einer von ihnen ist Najib Kamali. Er kommt aus Parwan nördlich der afghanischen Hauptstadt Kabul. Zu seiner großen zwölfköpfigen Familie zählen Mutter und Vater, drei Schwestern und ein Bruder. Kamali floh allein aus seinem Land und lebt seit 2015 in Harrislee.

Mit einem Ein-Euro-Job hat er angefangen und ist heute als Mitarbeiter des Bauhofs bei der Gemeinde angestellt. Sein Bruder, erzählt er, habe für den afghanischen Präsidenten gearbeitet. Das Staatsoberhaupt Aschraf Ghani hat mit Einnahme Kabuls durch die Taliban seinem Land den Rücken gekehrt und sich ins Exil abgesetzt.


Najib Kamali zeigt Fotos seines Bruders in Tarnfleck und Sicherheitsweste, manche in der Wüste und unter Waffen, eines in einem vertäfelten Raum, in dem ihm ein Amerikaner ein blau eingebundenes Dokument mit goldenen Insignien überreicht. „Eine Auszeichnung“, meint Kamali, die sein Bruder als Sicherheitsmann in Diensten der amerikanischen Streitkräfte bekommen habe.

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Versteckt in der Hauptstadt

Diese Verbindung hätte ihm die Ausreise in den Westen ermöglicht, berichtet der Angehörige in Harrislee. Doch sein Bruder habe die Eltern, die jenseits der 70 sind, nicht im Land der Taliban allein lassen wollen. Jetzt verstecke er sich in der Hauptstadt. Aus dem Vater, sagt der Afghane, wollten die neuen Machthaber das Versteck schon herausprügeln.

Seit zwei Monaten, so schätzt Kamali, sei die Familie nicht mehr sicher, er hat Angst um sie, ist traurig. „Ich habe sie seit sechs Jahren nicht gesehen. Ich arbeite auch – ich will was machen. Was kann ich tun?“


Seine Fragen richten sich unter anderem an Beeke Frenzen, die die Abteilung Bürgerservice leitet, und ihren Kollegen und Integrationsexperten Mohamed Ali Daly. Sie beteuern beide, „wir machen, was wir können“, aber die Unsicherheit, dass etwas geschieht und, dass schnell etwas geschieht, können sie nicht nehmen. Der Verwaltung seien die Hände gebunden:Das Land Schleswig-Holstein setzt den Rahmen mit dem Landesaufnahmeprogramm, dies wiederum abgestimmt mit der Bundesregierung.

Suhaila hat gearbeitet, damit ihr Mann nachkommen konnte

Suhaila hat schon zuvor Unterstützung der Gemeinde erfahren. Sie lebt seit fünf Jahren in Harrislee, war zunächst allein hergekommen mit ihrem Sohn. Erst vor fünf Monaten konnte ihr Mann nachkommen; dafür habe sie gearbeitet, sagt Suhaila. Zuerst im Fast-Food-Restaurant und in der Altenpflege, wo sie ihren Lebensunterhalt verdient hat – jetzt arbeite sie in Vollzeit.

Ihr Mann spreche gut Englisch, sagt die Frau aus der Nähe von Herat. Er arbeite noch nicht, werde bald mit dem Deutschlernen beginnen. Auch sie hat Geschwister in Afghanistan, Cousinen, Cousins, von denen manche durch die Bautätigkeiten ihres Bruders im spanischen Auftrag oder die Mitarbeit ebenfalls gefährdet seien. Schon mehrmals haben die Taliban eine Schwester gewarnt, dass Muslime nicht nach Europa fliehen sollen.

Taliban treiben Abgaben ein und lassen sich versorgen

Vor allem aber werde ihr Bruder durch die Taliban bedroht wegen seiner Kooperation mit den spanischen Auftraggebern. Er habe alles verkauft und sei untergetaucht in einem kleinen Hotel in Kabul. Auch Abgaben würden die Taliban eintreiben von Haus zu Haus. Und manche Menschen würden gezwungen, die Taliban regelmäßig mit Essen zu versorgen, sagt Samira.

Sie war fast vier Monate auf der Flucht aus dem Nordosten von Afghanistan, bis sie vor fast sieben Jahren in Harrislee ankam, erzählt die sechsfache Mutter, die einen Teilzeit-Job im Hotel macht. Ihre beiden jüngsten Kinder kamen in Deutschland zur Welt. Zwei von zehn Geschwistern von Samira haben es ebenfalls nach Norddeutschland geschafft. Aktuell unterstützt sie ein Nachbar dabei, Familienmitglieder aus Afghanistan herauszuholen.


Tochter Behnaz, die wie ihre Schwester Shahnaz Arzthelferin werden möchte oder Krankenschwester, sagt über ihr Geburtsland Afghanistan, dass es dort keine Privatsphäre mehr gebe. „Sie kommen auch nachts und bedrohen Frauen“, ergänzt die Schülerin. Die Familie berichtet aus ihrem Umfeld, dass vielen Frauen Zwangsheirat mit einem Taliban drohe und jene deshalb fliehen.


Sie selbst werden in ihrer neuen Heimat von Verwandten aus Afghanistan angerufen und um Hilfe gebeten, darunter eine Nichte, die ihren Mann verloren, danach ihr Haus verlassen und in einem Hotel bei Kabul Zuflucht gesucht hat. Telefonisch Verbindung zu halten, sei derzeit kaum möglich, weil das Telefonnetz nicht funktioniere, erklärt Behnaz.

Das positive Bild, das die Taliban über die Nachrichten von sich verbreiten lassen, ist falsch, sagen die Gesprächspartnerinnen übereinstimmend. Das sei nur Fassade, ergänzt Suhaila. Und Behnaz sieht mit ihren jungen Jahren keine Hoffnung für ihr Heimatland: „Wenn der Präsident flieht – wer steht dann hinter einem?“

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