Geschichte

Die ungeheure Sommersturmflut: So verheerend wütete die Nordsee

Die ungeheure Sommersturmflut: So verheerend wütete die Nordsee

Sommersturmflut: So verheerend wütete die Nordsee

Prof. Dr. Thomas Steensen/shz.de
Nordfriesland
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Am Strand von Westerland werden die Schäden der Sturmflut in Augenschein genommen. Foto: Photoarchiv Pförtner/Sylter Archiv/shz.de

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Solche Katastrophen ereigneten sich normalerweise nur von Oktober bis März, doch in jenen Sommer 1923 war alles anders: Am 30. August ertranken Menschen, brachen Deiche und sanken Schiffe.

„Am 30. August ist die bekannte Bäderinsel Sylt durch eine Sturmflut von solcher Macht überrascht worden, derengleichen man seit Jahrzehnten vergessen hatte und nicht mehr erwartete.“ So begann der österreichische Schriftsteller Robert Musil, der seinen Sommerurlaub 1923 auf Sylt verlebte, seinen Bericht über die verheerende Flut jenes Jahres. In der recht kurzen Beschreibung benutzte er allein sieben Mal das Wort „ungeheuer“. Die Schreckensflut traf nicht nur die Insel. In ganz Nordfriesland fielen ihr Menschen zum Opfer, brachen Deiche, gerieten Schiffe in Seenot, ertranken Rinder und Schafe, wurden Bauwerke zerstört.

Seit fast hundert Jahren hatte es eine Flut von vergleichbarer Zerstörungswut in Nordfriesland nicht mehr gegeben. Solche Katastrophen ereigneten sich sonst eigentlich nur in den Monaten Oktober bis März. Aber diese geschah im Sommer, als niemand damit rechnete. Zum letzten Mal starben damals in größerer Zahl Menschen in Nordfriesland bei einer Sturmflut. Etwa 15 Todesopfer waren zu beklagen, weiter im Norden an der dänischen Westküste sogar 19. Trotzdem finden sich in der regionalen Literatur kaum Angaben über dieses vergessene Ereignis. Der Küstenschutzexperte Marcus Petersen verzeichnet es in seinem Standardwerk „Sturmflut“ nicht einmal.

Hitze, Feuer, steigende Preise

Der Sommer 1923 war nicht gut gewesen, einer Hitzewelle folgten extrem kalte Wochen. Zudem wuchsen die Sorgen der Menschen von Tag zu Tag mit den unaufhörlich steigenden Preisen für alles, was man kaufen wollte. Der 30. August war ein Donnerstag. In den Nächten zuvor hatte es kräftige Gewitter gegeben, auf Sylt wurde ein Bauernhaus in Brand gesetzt. An jenem Unglückstag nun setzte am frühen Morgen ein schwerer Sturm ein und schwoll gegen Mittag zu einem Orkan an. Er drehte von Südost auf Nordwest und schuf damit eine auch von anderen Sturmfluten bekannte gefährliche Wetterlage. Um drei Uhr nachmittags war Hochwasser. Die Flut sollte zu fallen beginnen, aber sie stieg weiter an. Um diese Zeit hörte man an vielen Orten an der nordfriesischen Küste die Feuersirenen und Nebelhörner, wurden die Sturmballons gehisst.

Zwei Großbaustellen gab es damals im nordfriesischen Wattenmeer. Im Frühjahr 1923 hatte die Arbeit an dem schon lange geplanten Eisenbahndamm zwischen dem Festland und Sylt begonnen, und im Osten der Insel Nordstrand wurde ein neuer Koog eingedeicht. Die Sommerflut richtete verheerende Schäden an. Am Damm nach Sylt spülte sie viel Erdreich hinweg. Die Schriftstellerin Margarete Boie beschrieb die Flut in ihrem Roman „Dammbau“, der schon bald nach der Eröffnung des Damms erschien, als eine „Naturkatastrophe, wie sie in hundert Jahren kaum einmal vorkäme“.

Auf Nordstrand war die Eindeichung des Pohnshalligkooges in vollem Gange, der Deichschluss schien bereits in greifbare Nähe gerückt. Aber die Flut durchbrach den neuen Deich an mehreren Stellen und riss große Teile des aufgeworfenen Materials weg. Zu allem Überfluss wurde ein Teil der Arbeitsgeräte fortgetrieben, ein Bagger mit Förderband stürzte in einen Priel. Der Deich konnte erst im folgenden Jahr vollendet werden.

Viel schlimmer traf es sechs Arbeiter, die in ihrer Wohnschute am Lahnungsdamm zwischen Nordstrand und dem Festland von der Flut überrascht wurden. Der Orkan riss das Dach ihres Holzboots ab. Die Männer klammerten sich an die Querbalken der voll Wasser gelaufenen Schute, wo sie stundenlang, mehr und mehr erschöpft und erstarrend, zwischen Leben und Tod hingen. Ein Arbeiter von Pellworm hielt das Entsetzliche nicht aus und ließ sich, so berichteten später seine Kollegen, bewusst ins Wasser sinken. Ein Arbeiter aus Rödemis entledigte sich seiner Kleidung und wollte schwimmend das Festland erreichen. Man fand seine Leiche am nächsten Morgen in Halebüll-Altendorf.

Lager für Deicharbeiter überflutet

Das größte Unglück ereignete sich an der Westküste Nordschleswigs, das seit 1920 zu Dänemark gehörte. Bei Rejsby wurde ein Barackenlager für Deicharbeiter überflutet. 19 Männer kamen um, nur einer konnte sich auf einer kleinen Erhebung in Sicherheit bringen. An die Katastrophe erinnert dort ein Gedenkstein.

Auf Sylt wütete die Flut am Weststrand, fraß erst die Sandburgen, holte sich dann etwa hundert Strandkörbe, die nach Musils Worten wie „Seehunde ins Wasser“ plumpsten. „Eine vielhundertköpfige Menge von Gästen und Hiesigen“ sah zu, berichtete die Sylter Zeitung. Am Roten Kliff wurden gewaltige Erdmassen abgebrochen. In breiten Brandungsschüben rollte die See aber auch über die damals noch nicht eingedeichten Marschgebiete im Osten der Insel. Beim Versuch, ihre Schafe in Sicherheit zu bringen, ertranken in Archsum auf den überfluteten Wiesen ein Bauer und seine Frau.

Mehrere Schiffe gerieten in Seenot. Der Ewer „Wilhelmine“ aus Munkmarsch auf Sylt strandete bei Südfall und hisste die Notflagge. Der Schiffer, sein Bruder und sein 15-jähriger Sohn, der als Schiffsjunge mitfuhr, suchten Rettung im Mast. Der Schleppdampfer „Hertha“ des Wasserbauamts Husum wollte Hilfe bringen. Doch dessen Besatzung musste mit ansehen, wie die drei erschöpften Männer ins Wasser sanken. Nur der Junge konnte mit einem Schiffshaken an Bord gezogen werden. Im Husumer Krankenhaus erfuhr er, dass sein Vater und sein Onkel umgekommen waren. Der Seitenraddampfer „Freya“ geriet mit 260 Passagieren zwischen Munkmarsch und dem Festlandshafen Hoyerschleuse ebenfalls in Seenot, konnte aber im Schutz der damals noch bestehenden Hallig Jordsand das Abflauen des Orkans abwarten. Der mit vielen Feriengästen besetzte Dampfer der Linie von Sylt nach Hamburg drehte bei Amrum um und machte wieder an der Seebrücke in Hörnum fest.

Das Motorrettungsboot „Pider“ von der Amrumer Station der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger strandete am Steindeich von Föhr und wurde zerstört, die Mannschaft aber gerettet. Mehrere Wasserfahrzeuge, darunter ein Fischkutter aus Husum, landeten durch die Wucht der Wellen auf dem Deich des Cecilienkoogs vor Bredstedt. An der Tönninger Werft trieben im Bau befindliche Schiffe ab.

Warften beschädigt, Ernte zerstört

An der Südwestecke der Insel Föhr wurde am kleinen Leuchtfeuer Olhörn die erst einige Jahre zuvor erbaute Betondecke völlig zerstört. „Ein Blitz nach dem andern zuckte in schneller Folge auf und dröhnende Donnerschläge folgten kurz hintereinander“, berichtete die Lokalzeitung. Mindestens zehn Rinder wurden vom Blitz erschlagen. In Hedehusum traf es einen Bauernhof, der völlig ausbrannte.

„Grauenhaft waren die Stunden der Sturmflut auf den Halligen“, hieß es in den Husumer Nachrichten. Große Teile der Heuernte wurden fortgespült, Stege zerstört, Warften beschädigt. Ein mit Heu beladenes Halligboot von Hooge „vertrieb nach Sandhörn und ist verloren“. Über eines von Oland, das nach Norderoog unterwegs war, wusste die Zeitung auch Tage später nur mitzuteilen, dass es noch vermisst werde.

Am Morgen nach der Flut „ging goldenstes Sonnenlicht über der weiten Verwüstung auf“, schrieb der Lokalreporter Felix Schmeißer, der das Geschehen in Husum miterlebte. Dort war der Deich des Dockkoogs gebrochen. Robert Musil (1880–1942), der bald mit seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ literarischen Weltruhm erlangen sollte, schloss seinen Augenzeugenbericht von der Insel Sylt mit diesen Sätzen: „Am nächsten Tag, als das Unwetter abgeflaut war, scharrten Bauern ihr verbliebenes Korn und Heu zusammen, am Strand gruben einige Enthusiasten schon wieder neue Sandburgen. Ich aber fand zwei Kilometer vom Ufer eine ertrunkene Feldmaus. Das war alles, was die Flut zurückgelassen hatte.“

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