Omikron in Schleswig-Holstein

Virologe Helmut Fickenscher: Langfristig wird jeder infiziert

Virologe Helmut Fickenscher: Langfristig wird jeder infiziert

Virologe: Langfristig wird jeder infiziert

SHZ
Kiel
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Der Virologe Helmut Fickenscher ist Leiter des Instituts für Infektionsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Foto: Carsten Rehder/shz.de

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Der Kieler Virologe Helmut Fickenscher spricht im Interview über die Impfpflicht, Spaziergänger und die Immunisierung der Bevölkerung.

Herr Fickenscher, die Omikron-Fälle nehmen enorm zu, trotzdem scheinen derzeit viele geimpfte Menschen gelassener unterwegs zu sein. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Wir haben derzeit unglaublich hohe Fallzahlen, damit nimmt auch die Infektionswahrscheinlichkeit zu. Deshalb rate ich weiterhin zur Vorsicht, auch wenn die Gefährlichkeit der Omikron-Variante geringer ist. Das heißt: Kontakte vermeiden, Abstand halten und Maske tragen.

Ihr Kollege Christian Drosten hat gesagt, dass wir uns alle irgendwann infizieren müssen, um eine Immunität in der Bevölkerung zu bekommen. Warum nicht jetzt?

Langfristig wird es darauf hinauslaufen, dass wir uns alle infizieren. Trotzdem besteht weiterhin eine Gefährdungssituation, denn die Annahme, dass Omikron nicht gefährlich ist, ist trügerisch, weil derzeit nicht viele ältere oder vorerkrankte Menschen betroffen sind.

Sind denn ältere Geimpfte gefährdeter?

Diese Aussage lässt sich derzeit nicht treffen, weil wir die allermeisten Infektionen bei jungen Erwachsenen haben. Uns fehlen schlichtweg die Daten, deshalb dürfen wir auch kein Risiko eingehen.

Also sind die derzeitigen Maßnahmen der Landesregierung prophylaktischer Natur?

In der Pandemieplanung werden zwei Phasen unterschieden: Das ist zum einen das Containment, also das Wegsperren. Diese Strategie ist bei der Omikron-Variante nicht mehr möglich. Die zweite Phase ist Protection, das ist der Schutz gefährdeter Personen, also älterer Ungeimpfter, aber auch allgemein aller Hochbetagten, Vorerkrankten und Risikopatienten.

Das bedeutet, die Mehrheit der Bevölkerung schränkt sich ein, um diejenigen zu schützen, die sich nicht impfen lassen wollen. Wie lange kann eine Gesellschaft das leisten?

Es gibt da ein breites Spektrum unterschiedlicher Konstellationen bei Nicht-Geimpften. Natürlich gibt es polemische Impfgegner, die alle Zusammenhänge leugnen. Aber es gibt auch Personen, die sich einfach nicht gut auskennen: Diese haben teilweise einen Migrationshintergrund, es gibt aber auch Bildungs- und gesundheitliche Barrieren, besonders bei eingeschränkter Integration.

Fällt es Ihnen manchmal schwer, so rational zu bleiben, wenn diese Ungeimpften dann noch als sogenannte Spaziergänger demonstrieren gehen?

Ich würde es eigentlich für selbstverständlich halten, dass 95 Prozent der Bevölkerung sich freudig impfen lassen. Das wäre der naheliegende Weg, um diese Situation, in der wir immer noch sind, relativ geradlinig zu bewältigen.

Wie stehen Sie zur Impfpflicht?

Ich fürchte, dadurch entsteht eine weitere Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Deshalb begrüße ich eher Maßnahmen, die auf Integration zielen und nicht auf Ausgrenzung. Außerdem wäre bei einer Impfpflicht auch ein Impfregister notwendig, aber das dürfte datenschutztechnisch schwierig werden. Und eine Impfpflicht, bei der es sich herausstellt, dass sie gar nicht umsetzbar ist, wäre problematisch.

Können Sie die Angst vor einer Impfung nachvollziehen?

Eine gewisse Zurückhaltung bei neuen Medikamenten oder Impfstoffen ist ein bekanntes gesellschaftliches Phänomen, aber sie ist bei den mRNA-Impfstoffen absolut nicht mehr angebracht, weil diese Stoffe so gut erprobt sind wie kaum ein anderer. Nach unzähligen Impfungen mit nur ganz wenigen dokumentierten schweren Impfreaktionen gibt es daran wirklich keinen wissenschaftlichen Zweifel mehr. Aber natürlich hat jeder ein Recht auf seine eigenen Ängste. Ich hoffe sehr, dass der Impfstoff Novavax, der mittlerweile zugelassen ist, dabei helfen kann, viele der Skeptiker zu überzeugen.

Und die Geimpften müssen gleichzeitig auf die Immunisierung durch ausreichend viele Infektionen warten?

Die Impfquote ist nach wie vor ein ganz wesentlicher Faktor und natürlich auch ein gewisses Gleichgewicht zwischen Vorsicht und Routine im Alltag. Wir werden gerade über die Infektionen bei jüngeren Menschen schrittweise die Immunität erhöhen. Uns hilft, so seltsam es klingt, jeder Infizierte, deshalb ist eine Infektion ohne schweren Verlauf für die Allgemeinheit erst einmal positiv zu bewerten. Wenn dann noch die Schutzmaßnahmen bei Risikopatienten und Hochbetagten gut funktionieren, dann ist das eine Perspektive. Aber ich bin da immer noch vorsichtiger als mein Kollege Christian Drosten, weil wir in Schleswig-Holstein derzeit ansteigende Hospitalisierungsparameter haben. Sollte dieser Trend weitergehen, könnten weitere Maßnahmen notwendig werden.

Was zunehmend schwerer zu vermitteln wäre…

Deshalb müssen wir die Perspektive zeigen: Das Virus lässt sich nicht einsperren, aber wir können es einbremsen. An dem Punkt des Übergangs sind wir gerade. In der Zukunft wird Sars-CoV-2 ein Virus der Kleinkinder sein. Der Rest der Gesellschaft wird seit dem Kindesalter eine Vielfalt an Infektionen durchgemacht haben, ohne das zu merken. Das ist das Ziel aller dieser Maßnahmen. Auf diesem Weg sind wir schon weit fortgeschritten.

Wie lange wird das noch dauern?

Das ist sehr schwer zu beurteilen, aber es würde mich wundern, wenn es noch lange dauern würde, bis wir unser normales Leben zurückhaben. Ich hoffe, dass dieser Zustand noch in diesem Jahr erreichbar ist. Aber sicher ist das leider nicht.

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