Schleswig-Holstein

Warum Gemeinden in Schleswig-Holstein ihre Straßen nicht sicherer machen dürfen

Warum Gemeinden in Schleswig-Holstein ihre Straßen nicht sicherer machen dürfen

Warum Gemeinden in SH ihre Straßen nicht sicherer machen

Sina Wilke
Flensburg/Flensborg
Zuletzt aktualisiert um:
Alexandra Richter erlebt auf dem Ellernbrook immer wieder gefährliche Situationen mit Autos. Foto: michael ruff

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Viele Städte und Gemeinden wollen ihre Straßen durch Tempolimits oder Zebrastreifen sicherer machen – und dürfen nicht. Weshalb sich das bald ändern dürfte und die Vorrechte von Autofahrern langsam bröckeln.

Wenn Alexandra Richter mit ihrem Hund spazieren geht, hat sie manchmal Angst. Immer dann, wenn Autos viel zu schnell an ihr vorbeifahren und viel zu dicht. Die 48-Jährige sieht die Autos nicht, denn sie ist blind. Aber sie hört und spürt sie. „Für mich ist das lebensgefährlich“, sagt sie. „Manchmal denke ich: Sie fahren mir gleich den Hund um!“

Alexandra Richter wohnt in Kisdorferwohld, einem Ortsteil etwas außerhalb von Kisdorf (Kreis Segeberg). Die Straße, die sich am Wohngebiet entlang und Richtung Kisdorf erstreckt, der Ellernbrook, ist einspurig, schmal und hat keinen Gehweg.

Hier spielen Kinder, gehen Anwohner mit ihren Hunden Gassi, spazieren Senioren am Rollator. Wenn ein Auto kommt, haben sie nicht viel Platz zum Ausweichen. Alexandra Richter erzählt, wie sie immer wieder im Matsch steht oder in den Brombeerbüschen, weil sie nicht weiß, wohin. Dennoch dürfen Autos hier schnell fahren – je nach Straßenabschnitt 50, 70 oder sogar 100 km/h.

Der Kreis fand keine Unterlagen – und nahm Tempo 30 zurück

Das war nicht immer so. Bis vor zwei Jahren galt auf dem Ellernbrook Tempo 30. Aber weil ein Teilstück davon ausgenommen war, beantragte Alexandra Richters Schwiegervater, auch hier ein Tempolimit einzurichten. Damit nahm das Kisdorfer Leid seinen Lauf: Die Kreisbehörde fand keine Unterlagen über die Geschwindigkeitsbeschränkung, folgerte, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gebe – und nahm sie zurück.

Seitdem kämpfen die Anwohner darum, ihre Tempo-30-Straße wiederzubekommen – bislang erfolglos. „Der Kreis sagt, die Autofahrer müssten ihre Geschwindigkeit ja ohnehin den Gegebenheiten anpassen“, berichtet Erik Herklotz, Sprecher der Bürgerinitiative Kisdorferwohld, und lacht bitter.

Von wegen angepasste Geschwindigkeit – er erzählt, wie einmal ein schnelles Auto ganz knapp an einem radelnden Kind vorbeischrammte, von achtlosen Paketboten und den Schulklassen, die hier entlang zum Spielplatz und Forst laufen. Sicher, an Tempo 30 hätten sich damals auch nicht alle Autofahrer gehalten. „Doch dann sind sie vielleicht 40 gefahren, aber nicht 80!“ Für ihn ist die ganze Sache nichts als ein Schildbürgerstreich und ein riesengroßes Ärgernis.

In Todendorf haben Eltern Angst um ihre Kinder

Erik Herklotz ist in guter Gesellschaft: Überall in Schleswig-Holstein kämpfen Anwohner, Bürgermeister oder Stadtvertreter für mehr Sicherheit auf ihren Straßen. Sie sorgen sich wegen Rasern, unübersichtlicher Kreuzungen, chaotischen Verkehrs und fordern Tempolimits, Ampeln oder Zebrastreifen. Aber oft kämpfen sie umsonst. Allein in Kisdorf gibt es noch zwei Stellen, an denen die Gemeinde gern einen Fußgängerüberweg hätte – „es wurde alles abgelehnt“, sagt Bürgermeister Wolfgang Stolze.

Oder das Beispiel Todendorf (Kreis Stormarn): Dort fordern Eltern und Gemeinde schon seit 20 Jahren einen sicheren Weg über die Landesstraße 90, die täglich von vielen Kita- und Schulkinder gequert wird – ohne Erfolg. „Das Verkehrsaufkommen sei zu gering, um eine Ampel aufzustellen“, gibt Bürgermeister Dennis Marten die Argumentation des Kreises wieder.

Trotz tödlicher Unfälle kein Tempolimit zwischen Großsolt und Süderschmedeby

Oder der Kreis Schleswig-Flensburg: Auf der L193 zwischen Großsolt und Süderschmedeby kommt es immer wieder zu schweren Unfällen, bei denen bereits mehrere Menschen ums Leben gekommen sind, zuletzt 2019 und 2020.

Doch eine Geschwindigkeitsbegrenzung lehnt die Straßenverkehrsbehörde ebenso ab wie ein Überholverbot: Letzteres komme nicht infrage, weil sich das Überholen bei fehlender Sicht ohnehin verbiete, erklärt der Leiter der Straßenverkehrsbehörde.

Und für ein Tempolimit würden hier zu wenige Autos zu schnell fahren. Insgesamt lägen „keine Erkenntnisse über einen spezifischen Unfallschwerpunkt, beziehungsweise Unfallhäufungsstellen oder eine besondere Gefahrenlage vor.“ Für die Anwohner ist das unverständlich. Einer von ihnen fragt:

Das Straßenverkehrsgesetz stellt den Autoverkehr über alles

Tatsächlich müssen Unfälle oft schon passiert sein, damit etwas passiert, denn die Hürden für verkehrsberuhigende Maßnahmen sind hoch. Der Grund dafür liegt in dem fast 70 Jahre alten Straßenverkehrsgesetz, mit dem die junge Bundesrepublik ganz im Sinne von Wohlstand und Wachstum einen ungehinderten Autoverkehr ermöglichen wollte: Neben der Sicherheit ist laut dem Gesetz vor allem die „Leichtigkeit“ des Verkehrs sicherzustellen. Das bedeutet nichts anderes als: Der Verkehr soll fließen! Was wiederum bedeutet, dass vor allem Autos möglichst rasch und ungehindert fahren sollen. An diesem Grundsatz hat sich sehr lange nichts geändert.

Roland Stimpel vom Fachverband Fußverkehr Fuss e.V. erklärt:

Und weiter: „Auch in der SPD galt bis in die 2010er Jahre hinein: ,Das Auto hat Vorrang‘.“

Die Vorrechte der Autofahrer könnten kippen

Doch inzwischen bewegt sich etwas. Verkehrs-Tipps aus den 60ern, dass Fußgänger sich sammeln sollen, bevor sie die Straße überqueren, damit Autofahrer nicht so oft anhalten müssen, wirken heute lächerlich. Moderne Radverkehrskonzepte werden diskutiert, und sogar das unbegrenzte Rasen auf Autobahnen, bislang eine Heilige Kuh der Deutschen, wackelt.

Der Sinneswandel schlägt sich auch im Koalitionsvertrag nieder, in dem die Regierungsparteien vereinbart haben, das Straßenverkehrsgesetz zu reformieren. Wichtig soll dann nicht nur die Leichtigkeit sein, sondern auch Klima- und Umweltschutz, städtebauliche Entwicklung und Gesundheit. Die Privilegien des Autos würden damit weiter kippen, und Städte und Gemeinden freier entscheiden können, wo sie einen Zebrastreifen oder Tempo 30 einrichten.

Städte und Gemeinde wollen selbst bestimmen

Viele von ihnen warten schon sehnlichst darauf: In der Initiative „Lebenswerte Städte durch angepasste Geschwindigkeiten“ fordern aktuell 388 deutsche Städte, Gemeinden und Kreise mehr Entscheidungsfreiheit bei Tempolimits. Auch aus Schleswig-Holstein sind viele Kommunen dabei, etwa Flensburg, Kiel, Neumünster, Bad Segeberg oder Plön. Sie wollen keine Flickenteppiche mehr, in denen Tempo 30 vor Kitas oder Altenheimen sich mit Tempo 50 abwechselt, sondern 30 km/h vielerorts als Regel einführen.

Sie wollen mehr attraktive öffentliche Räume, die nicht von Autos dominiert werden, und sie haben es satt, bevormundet zu werden: Im vergangenen Oktober beispielsweise wurde ein Projekt zur Verkehrsberuhigung in Hamburg-Ottensen gerichtlich gestoppt; Düsseldorf musste eine „Protected Bike Lane“ ebenso zurücknehmen wie nächtliches Tempo 30.

Doch das Bundesverkehrsministerium unter Volker Wissing (FDP), das Vorschläge für ein neues Straßenverkehrsgesetz erarbeiten soll, lässt sich Zeit. „Da wünsche ich mir mehr Geschwindigkeit“, sagt der Kieler SPD-Bundestagsabgeordnete und passionierter Radfahrer Mathias Stein, einer der Berichterstatter zur Gesetzesänderung. „Da ist man schon ungeduldig, weil es relativ wenig kostet und dauern wird, bis es zur Umsetzung kommt.“ Aber: „Der Wille, ist, glaube ich, da. Und wir drängen darauf, dass uns zügig etwas vorgelegt wird. Die Kommunen sollten noch in diesem Jahr in die Lage versetzt werden, mehr Spielraum zu bekommen.“ 

Dabei ist eine Reform eben nicht nur eine Frage von Klimaschutz und Lebensqualität, sondern auch der Sicherheit: Zwar ist seit den 50er Jahren die Zahl der Verkehrstoten stark zurückgegangen; inzwischen tut sich aber nicht mehr viel. Die „Vision Zero“, die europaweit null Getötete und Schwerverletzte im Straßenverkehr anpeilt und zu der sich auch der Bund bekennt, rückt der Realität momentan nicht näher.

Die Zahl der Verkehrstoten stagniert

„Bei der Entwicklung der Unfalltoten haben wir eine Erfolgsgeschichte hingelegt. Aber in den letzten fünf Jahren stagnieren wir im Bereich von etwa 3000 Toten“, erklärt Stefan Pfeiffer von der Kommission Verkehr der Deutschen Polizeigewerkschaft. Helm- und Gurtpflicht, Kindersitze und Promillegrenzen haben jahrzehntelang ebenso Wirkung gezeigt wie der Straßenbau mit Kreisverkehr und Leitplanken, die Fahrzeugtechnik mit Airbags und ABS und eine verbesserte Rettungskette.

Nun seien die Effekte allerdings ausgereizt. „Es wird deutlich: Das bewegt sich nicht mehr von allein nach unten. Wir ruhen uns da in Deutschland ein bisschen drauf aus. Jetzt wäre es wichtig, dass die Politik handelt“, sagt der Verkehrsexperte.

Seine Forderungen sind etwa höhere Bußgelder für Verkehrssünder, Helmpflicht und Befähigungsnachweise für Pedelec- und E-Scooter-Fahrer, Handyblitzer, mehr Tempo-30-Zonen und Tempolimits auf Autobahnen.

Verkehrsforscher fordern zudem den konsequenten verpflichtenden Einbau von Sicherheitstechnologien wie den Alkohol Lock, den Notbremsassistent oder die elektronische Geschwindigkeitsbremse. „Wenn alles andere relativ ausgeschöpft ist, muss man auch an Stellen hinlangen, wo es wehtut“, sagt Stefan Pfeiffer, und:

Die Aktivisten sagen: Es passiert viel zu wenig

Verkehrssicherheit, sagt Fußverkehrs-Aktivist Roland Stimpel. Und „Tempo 30 ist der größte Schlüssel dazu.“ Fuss e.V. fordert daher grundsätzlich 30 km/h innerorts – und Tempo 50 nur als Ausnahme. „Der Sicherheitsunterschied ist enorm“, betont Stimpel.

Ähnlich sieht es ein weiterer Vertreter vulnerabler Verkehrsteilnehmer: Jan Voß vom ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club) Schleswig-Holstein. „Wir brauchen eine Fehler verzeihende Infrastruktur“, fordert er: Breitere Radwege, freie Sichtachsen, größerer Überholabstand, Radstraßennetze und mehr Tempo 30 sind nur einige der ADFC-Forderungen. „Wir sehen deutlichen Nachholbedarf. Die Lösungen gibt es, aber es geht zu langsam“, kritisiert er.

Auch Roland Stimpel glaubt, dass selbst mit der heutigen Gesetzeslage viel mehr möglich wäre. „Jeder Beamte hat Spielräume“, betont er. „Aber sie haben sich jahrelang bemüht, den Verkehr flüssig zu halten und ändern sich nicht von heute auf morgen.“

Kisdorferwohld: Kinder müssen Straße queren, wo Tempo 100 gilt

Das haben auch die Anwohner von Kisdorferwohld erfahren. „Dass das hier nicht als Gefahr gesehen wird, ist verrückt“, sagt Erik Herklotz. Zusammen mit Alexandra Richter steht er jetzt an einer Reitschule am Ellernbrook. Um zu den Ställen zu gelangen, müssen die Kinder vom Parkplatz auf der anderen Seite die Straße überqueren. Und hier gilt Tempo 100. „Ich habe immer ein bisschen Angst um die Kinder“, sagt eine Anwohnerin, die aus dem Haus gekommen ist.

Zumindest so lange, bis ein neues Gesetz den Gemeinden mehr Spielraum gibt, selbst zu reagieren, wenn sie eine Stelle für gefährlich halten. Oder bis sich bei den Autofahrern mehr bewegt als auf der Tachonadel.

Und Roland Stimpel wünscht sich etwas, das wohl jeder Kisdorferwohlder unterschreiben würde: „Viele Autofahrer sehen ein Dorf als Verkehrshindernis. Das muss man in den Köpfen umdrehen. Man muss doch dankbar sein, dass man dort durchfahren darf!“

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