Spuren durch die Hauptstadt

Auf Schusters Rappen durch Kopenhagens „wilden“ Nordwesten und über den Bischofshügel

Auf Schusters Rappen durch Kopenhagens „wilden“ Nordwesten

Auf Schusters Rappen durch Kopenhagens „wilden“ Nordwesten

Kopenhagen
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Rote oder gelbe Ziegelbauten aus den 30er-Jahren sind typisch für Kopenhagen NV. Foto: Walter Turnowsky

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Nach einer längeren Pause nimmt Walter Turnowsky seine „Führungen“ durch Kopenhagen wieder auf. Diesmal geht es in den Stadtteil „Nordvest“, der den Ruf eines sozialen Brennpunkts hat, oder besser gesagt hatte. Doch wie wir sehen werden, wandelt sich der Stadtteil.

Ausgangspunkt ist „Nørrebro Station“, die leicht mit Metro, S-Bahn oder Bus zu erreichen ist. Wir gehen unter der S-Bahn hindurch. Wie jede Kopenhagenerin und jeder Kopenhagener weiß – und auch alle, die als solche gelten wollen –, befinden wir uns damit nicht mehr auf Nørrebro, sondern in Nordvest oder einfach NV. 

Der gleichnamige, ungefähr zehn Jahre alte Spielfilm schildert die harte Banden- und Drogenkriminalität im Stadtteil. Sehr offensichtlich ist sie nicht – und auch nicht gewesen. Den Alkohol- und Drogenkranken ist man allerdings schon begegnet.

Direkt gegenüber dem S-Bahnhof liegt, das Schou-Epa-Haus, das 1970 als damals hochmodernes Warenhaus inklusive Klimaanlage gebaut wurde. Obwohl die Schou-Epa-Kette bereits nach wenigen Jahren Pleite machte, überlebt das Warenhaus unter diesem Namen bis in die 90er-Jahre.

Seither sind andere Supermärkte, Geschäfte und Fitnessstudios dort eingezogen. Der Name „S&E Huset“ prangt bis heute über dem Eingang.

Das Schou-Epa-Haus Foto: Walter Turnowsky

Wir gehen den Nordre Fasanvej entlang und stoßen schon bald auf eine Spur des Kopenhagens von einst. Bis vor wenigen Jahren hat hier ein Händler noch Flaschengas an die Haushalte in der Gegend verkauft. Auch Koks zum Heizen hat er im Sortiment. 

Die Firma existiert noch, hat das Geschäft jedoch stärker auf Brennholz verlegt – und liegt jetzt in einem Vorort. Menschen mit Einfamilienhäusern und Sommerhäusern sind eher die Kundinnen und Kunden. 

Der Gas- und Kokshändler ist aus Kopenhagen weggezogen. Foto: Walter Turnowsky

Einige Schritte weiter entdecken wir zwischen Straße und S-Bahn eine dieser etwas versteckten Ecken dieser Stadt. Ein kleiner grüner Platz, der bis vor Kurzem er noch etwas vernachlässigt war. Mit seinem etwas heruntergekommenen Charme bot er sich jedoch trotzdem als ein Ort für eine Ruhepause an.

Jetzt hat die Kopenhagener Versorgungsgesellschaft dort eine Sicherung gegen Überschwemmungen bei Starkregen angelegt. Gleichzeitig hat sie einen Minipark gestaltet, in dem es sogar eine Kunstinstallation gibt, auf der man auch sitzen kann. Mit „Glenteparken“ hat die Grünlage auch noch einen Namen erhalten.

Das Wort Himmel spielt darauf an, dass in dem Becken das Wasser des Himmels aufbewahrt werden soll, wenn davon zu viel herabfällt. Foto: Walter Turnowsky

Direkt gegenüber liegt eine Fabrik, in der Novo in den 30er-Jahren mit der Insulin-Produktion im großen Maßstab begann. Heute produziert dort das Tochterunternehmen Novozymes Enzyme. Die Fabrik ist ursprünglich von dem bekannten dänischen Architekten Arne Jakobsen entworfen. Die erfolgreichen Diabetes- und Abnehmpräparate produziert Novo Nordisk an anderen Standorten.

Novozymes an der Grenze zwischen Nordwest und Frederiksberg Foto: Walter Turnowsky

Wir biegen jetzt in den Glentevej ein und gehen am Fabrikgelände von Novozymes entlang. Auf der rechten Seite liegen die für NV typischen Ziegelbauten. Während das Nachbarviertel Nørrebro um die Jahrhundertwende gebaut wurde, war hier noch mehr oder weniger ländlicher Raum. 

Die Kommune Kopenhagen kaufte das Gelände auf, um hier die sozialdemokratische Vision von einem Leben für die Arbeiterschaft zu verwirklichen, bei dem Wohnung und Arbeit nahe beieinander lagen. Die Kommune ließ Sozialwohnungen bauen und zwischen ihnen entstanden kleiner Betriebe und Fabriken.

Diese Struktur können wir bis heute in Nordvest erkennen. Direkt neben Novozymes liegen kleinere Fabrikbauten. Heute finden wir in ihnen jedoch keine klassischen Produktionsgewerbe mehr, sondern eine Filmgesellschaft, ein Designstudio und eine Galerie.

In den einstigen Fabriken haben sich sogenannte kreative Gewerbe angesiedelt. Foto: Walter Turnowsky

Jetzt biegen wir in den Vibevej ein, und auch hier hat die Versorgungsgesellschaft Klimaanpassung mit Stadterneuerung miteinander verbunden. Ein Auffanggraben zieht sich als grünes Band die Straße entlang.

Der Graben soll Regenwasser auffangen. Foto: Walter Turnowsky

Etwas weiter die Straße entlang entdecken wir ein Gebäude, das sich rein architektonisch nicht so richtig der Umgebung anpasst. Dafür entlarvt der Baustil umso deutlicher den Zweck des Gebäudes: Es ist eine Moschee. Nordvest ist eben unter anderem auch von ethnischer Vielfalt geprägt. In der Moschee kann man monatlich an einer Führung teilnehmen.

Die Imam Ali Moschee Foto: Walter Turnowsky

Weiter geht es dann den Ørnevej entlang. Der aufmerksamen Leserin und dem aufmerksamen Leser wird bei den Straßennamen schon etwas aufgefallen sein. Für die etwas weniger aufmerksamen können wir wiederholen, dass wir den Milan, den Kiebitz und jetzt den Adler hatten. (Den Fasan hatten wir zwar auch, aber die Straße zieht sich durch mehrere Stadtviertel und zwei Kommunen).

Folgerichtig wird dieser Teil von Nordvest das Vogelviertel (Fuglekvarteret) genannt. Das ist es nur passend, dass neuerdings Nistkästen an Straßenmasten angebracht worden sind.

Es sollen mehr Vögel ins Vogelviertel einziehen. Foto: Walter Turnowsky

Jetzt geht es noch den Mågevej entlang, der, nachdem wir den Frederiksundvej überquert haben, zum Blytækkervej wird. Wir merken, wir haben das Vogelviertel verlassen. 

Die Wohnungen am Mågevej sind etwas großzügiger angelegt. Beim roten Gebäude beginnt der Blytækkervej. Foto: Walter Turnowsky

Etwas weiter vorn entdecken wir ein Grundstück, dass auch eine diese kleinen grünen Oasen gewesen ist. Doch jetzt verwehrt uns ein Gitterzaun den Zutritt. Der überwucherte Baugrund war ein etwas geheimer Zufluchtsort. Später wurden die Sträucher ein wenig gezähmt, dort ein temporärer Taschenpark angelegt.

Vor einigen Jahren wurden Pläne zur Bebauung öffentlich, doch seither hat sich nichts getan. Die Natur nimmt das Grundstück wieder in Besitz. Genutzt wird er nur noch von etwas fragwürdigen Personen, die hier ihren Sperrmüll abladen. 

Das Gestrüpp hat hier wieder die Oberhand gewonnen. Foto: Walter Turnowsky

Als Nächstes gehen wir den Rentemestervej entlang. Denn auch wenn dieses Viertel im Gegensatz zum Vogelviertel keinen eigenen Namen trägt, so gibt es dennoch ein Thema bei den Straßennamen. Hier sind es Berufsbezeichnungen, die auf den Schildern prangen. Vielfach gibt es diese heute nicht mehr. 

Einen „Blytækker“ (Dachdecker, der Bleidächer verlegt) kann man noch im Telefonverzeichnis finden. Nach einem „Rentemester“ oder „Birkedommer“ sucht man jedoch dort vergeblich. Man kann sich beim Rundgang durch das Viertel jedoch den Spaß machen und mithilfe von Google untersuchen, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbirgt.

Foto: Walter Turnowsky

In dieser Ecke haben kleine Reihenhäuser zum Teil die Wohnungsbauten abgelöst. Wir finden noch ausgeprägter ehemalige Werkstätten und kleine Fabriken, als das im Vogelviertel der Fall war. Doch auch hier werden sie jetzt für andere Zwecke genutzt, wie ein Schild mit „Teater“ zeigt. 

Das „Teater Nordvest“ Foto: Walter Turnowsky

Die Anwohnerinnen und Anwohner haben die Straßen mit Bänken und Blumen gemütlich gestaltet. Man merkt: Hier sind Menschen eingezogen, die dafür die Kräfte und die Ressourcen haben.

Hier mag es jemand bunt. Foto: Waltere Turnowsky

Ein wenig weiter kommt jedoch ein Hinweis, dass in der Gegend auch noch Menschen mit erheblichen sozialen Problemen leben. Kirkens Korshær hat eine Herberge für obdachlose Migrantinnen und Migranten eingerichtet. Einige weitere Einrichtungen für sozial Benachteiligte liegen gleich in der Nähe.

Die Herberge Kompasset Foto: Walter Turnowsky

Kurz danach wieder der Kontrast: Hipstercafés und -restaurants, die auch bereits an einem Mittwochvormittag eifrig genutzt werden.

Ein Café auf einem ehemaligen Werkstattsgelände Foto: Walter Turnowsky

Wir kommen zum Ring II, der auf dieser Strecke Tomsgårdsvej heißt. Als Hauptverkehrsader lädt er nicht zum Entlangspazieren ein, also überqueren wir ihn schnell. Wir gehen an der großzügig angelegten Bibliothek mit Veranstaltungssaal vorbei. Der Neubau war Teil eines Deals, der mit einem Gebäude gleich dahinter zu tun hat.

Die Bücherei am Rentemestervej Foto: Walter Turnowsky

Das ist nämlich das „Ungdomshus“. Das lag einst auf Nørrebro und war 25 Jahre lang Treffpunkt der autonomen Szene der Stadt. Der Stadtrat entschloss sich, das Haus auf Nørrebro zu verkaufen; 2007 wurde es geräumt. 

Doch da bliesen bereits wieder andere politische Winde und man einigte sich darauf, den Jugendlichen eine neues „Ungdomshus“ in NV zur Verfügung zu stellen. Dafür bekamen die Anwohnerinnen und Anwohner die neue Bücherei.

Das „Ungdomshus“ in Nordvest: Der autonome Look will gewahrt sein. Foto: Walter Turnowsky

Ein wenig weiter finden wir die dritte grüne Oase unseres Rundgangs. Der Smedetoftens Plads vereint Gartenanlage, Kunstwerk und kreative Jugendwerkstatt. An diesem Tag wird im Freien ein Kinderfilm gezeigt.

Der Smedetoftens Plads Foto: Walter Turnowsky

Bald erreichen wir die Friedhofsmauer des Bispebjerg Kirkegaard. Rechter Hand sehen wir erneut Straßenzüge mit den typischen einstigen Arbeiterwohnungen. Viele von ihnen sind klein und waren zumindest vor ungefähr 30 Jahren noch relativ billig. 

In den 80er-Jahren hat sich die Kommune Nordvest als das Viertel ausgesucht, in dem sie gezielt Menschen mit psychischen Leiden in den Wohnungen unterbrachte. In dem ohnehin einkommensschwachen Viertel war das nicht unbedingt eine besonders gute Idee.

Noch vor zehn Jahren beschrieb „Politiken“ das Viertel als sozialen Brennpunkt, geprägt von Alkoholismus und Hoffnungslosigkeit. Hier wollte kaum jemand freiwillig wohnen. 

Hinter den Türen dieser Bauten hat es viel soziale Not gegeben. Foto: Walter Turnowsky

Durch eine Pforte schlüpfen wir auf den Friedhof und Nordvest wird zu Bispebjerg. Eine ganz genaue Grenze gibt es nicht, und kommunale Planerinnen und Planer würden mich ohnehin belehren, dass Nordvest formal gesehen zum Stadtteil Bispebjerg gehört.

Bispebjerg Kirkegård Foto: Walter Turnowsky

Wir gehen quer über den Friedhof, bis wir auf rechts oben (eben auf dem Bischofshügel) die Grundtvigskirche erblicken. Der Bau wurde in den Jahren 1921 bis 1940 in Gedenken – ja, es ist leicht zu erraten – an den Pfarrer und Dichter N. F. S. Grundtvig errichtet.

Die Grundtvigskirche ist so gebaut, dass sie vom Weitem gut zu erblicken ist. Foto: Walter Turnowsky

Bevor wir die Kirche erreichen, entdecken wir jedoch noch gleich außerhalb des Friedhofs eine neue Kunstinstallation. Der Spiegelpavillon „Reflections in Commons“ stand im vergangenen Jahr zunächst auf Kongens Nytorv, jetzt kann man ihn am Bispebjerg erleben, bevor er 2025 wieder weiterzieht.

Im Pavillon kommt die Frage auf, was Spiegelung ist und was nicht. Foto: Walter Turnowsky

Bislang ist uns auf unserem Rundgang keine Person begegnet, die nach Touristin oder Tourist aussah. Als wir uns der Grundtvigskirche nähern, wird das schlagartige anders. Etliche Menschen asiatischer Herkunft haben ihre Kameras gezückt, um das Gebäude abzulichten.

Und es gibt einen besonderen Grund, weshalb Touristinnen und Touristen den Weg hierher gefunden haben: Laut „Politiken“ sind Aufnahmen der Kirche auf dem sozialen Medium TikTok als Geheimtipp unterwegs – wodurch er dann nicht ganz so geheim ist.

Der Wunsch dort auch sein eigenes Video zu machen, ist zum Teil bereits eine Plage geworden und macht selbst vor Beerdigungen nicht halt. Bei unserem Besuch benehmen sich alle jedoch ordentlich.

Die Kirche wird eifrig von Touristinnen und Touristen besucht. Foto: Walter Turnowsky

Wir umrunden die Kirche, denn nicht nur sie selbst macht hier das Besondere aus. Um sie herum sind Wohnhäuser im selben Stil gebaut worden. Die ganze Umgebung bildet eine Einheit.

Die Wohnhäuser und die Kirche bilden eine Einheit. Foto: Walter Turnowsky
Auf der von der Kirche abgewandten Seite gibt es kleine Gärten. Foto: Walter Turnowsky

Wir überqueren erneut den Ring II, der hier zum Tuborgvej geworden ist. Obwohl die Ringstraße stark befahren ist, diente sie früher kleinen Gruppen von Alkoholikerinnen und Alkoholikern als Aufenthaltsort. Gelegentlich sieht man sie noch immer dort.

Der Herr mit einem Plastikbeutel, den wir antreffen, unterhält sich jedoch nur mit sich selbst, denn er sitzt einsam auf der Bank.

Nun sind wir beim Bispebjerg Hospital angelangt. Es ist ursprünglich 1913 gebaut und von dem Gedanken durchdrungen, dass die Genesung auch von der Umgebung abhängt. Zwischen Pavillonbauten findet sich Gärten zur Erholung. Die Bedeutung einer heilenden Umgebung wird in diesen Jahren wiederentdeckt. 

Die Gärten am Bispebjerg Hospital Foto: Walter Turnowsky

Hier finden wir auch eine kleinere Kopie des Gefion-Springbrunnens, der am Hafen steht. In der nordischen Mythologie hat die Göttin Gefion Seeland aus Schweden herausgepflügt.

So entstand Seeland nach altem Glauben – die Geologie hat eine etwas andere Erklärung. Foto: Walter Turnowsky

Als wir das Krankenhausgelände verlassen, entdecken wir ein Gebäude, dass sich fast wie eine Schlange den Hügel hinunter windet. Der Bildhauer Bjørn Nørgaard hat den Wohnungsbau mit seinen organischen Formen Anfang des Jahrtausends entworfen.

Die glasierten Ziegel sind ein Merkmal von Bjørn Nørgaard. Foto: Walter Turnowsky

Er begann seine Karriere als Aktionskünstler und machte seinerzeit mit einer Pferdeschlachtung Schlagzeilen. Seither hat er sich jedoch zunehmend der Gestaltung des öffentlichen Raums gewidmet.

Das geschwungene Dach erkennt man auch aus der Ferne. Foto: Walter Turnowsky

Gleich neben dem Bau liegt der Lersø Park. Den genannten See gibt es schon lange nicht mehr. Er wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Müllhalde genutzt.

Der Lersø Park Foto: Walter Turnowsky

Bevor er zugeschüttet wurde, bekam er jedoch 1839 Bedeutung für eine damals neue religiöse Bewegung. Die ersten dänischen Baptistinnen und Baptisten wurden in ihm getauft.

Die Erwachsenentaufe ist eines der zentralen Merkmale des Baptismus. Foto: Walter Turnowsky

Unser Rundgang nähert sich seinem Ende, und wir spazieren Lygten entlang, um zu unserem Ausgangspunkt zurückzugelangen. Doch bevor wir die letzten Schritte zur Nørrebro Station gehen, wollen wir uns noch etwas Deutsches zu Gemüte führen. In Lygtens Kro gibt es Bratwurst mit Kartoffeln und Kraut, dazu ein Weißbier.

Abends ist es hier meist brechend voll. Foto: Walter Turnowsky

Man braucht jedoch nicht zu befürchten, dass man mit deutschen Schlagern oder Blasmusik beschallt wird. Hier dominieren modernere Klänge. Auch soll man nicht erwarten, dass die Leute hier im Dirndl oder in Lederhosen umherspringen. Tattoos und Piercings sind eher der angesagte Stil.

Doch auch ohne wird man freundlich bedient. 

Mahlzeit Foto: Walter Turnowsky

Der Rundgang ist ungefähr acht Kilometer lang. Man sollte für ihn – je nach Pausen – zweieinhalb bis dreieinhalb Stunden veranschlagen (ohne Bratwurst).

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