Krieg und Menschlichkeit

75 Jahre humanitäres Völkerrecht und Kriegsgräuel ohne Ende

75 Jahre humanitäres Völkerrecht und Kriegsgräuel ohne Ende

75 Jahre humanitäres Völkerrecht und Kriegsgräuel ohne Ende

dpa
Genf
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Auch für mutmaßliche Beteiligte an den Terroranschlägen in den USA 2001 gelten die Genfer Konventionen. (Archivbild) Foto: Shane T. McCoy/epa/dpa

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Sie stehen für mehr Menschlichkeit in schlimmen Zeiten: Die Genfer Konventionen sollen Zivilisten und Kriegsopfer in kriegerischen Auseinandersetzungen schützen. Zumindest auf dem Papier.

Die Grauen des Zweiten Weltkriegs haben die Welt wachgerüttelt: Auch in Kriegszeiten muss ein Mindestmaß an Menschlichkeit gelten, fanden Regierungen. Am 12. August 1949 verabschiedeten sie die vier Genfer Konventionen, die Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts. Zum 75. Jahrestag der Unterzeichnung machen aber vor allem immer häufigere mutmaßliche Verstöße Schlagzeilen, Stichwort russischer Angriff auf die Ukraine, Israels Antiterrorkrieg im Gazastreifen, der Machtkampf im Sudan und viele andere. 

«Ist der Versuch, Menschlichkeit auch in Kriegszeiten zu wahren, also gescheitert?», fragt Historiker Johannes Piepenbrink in der Zeitschrift «Aus Politik und Zeitgeschichte» der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn. Rechtswissenschaftler Pierre Thielbörger von der Universität Bochum sagt: nein. Schließlich seien unter Verweis auf Verletzungen Wirtschaftssanktionen oder völkerstrafrechtliche Verfahren möglich, deswegen überlegten viele Regierungen sehr genau, wie sie sich verhalten, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. 

Die Ursprünge

Die Genfer Konventionen gehen auf den Schweizer Henry Dunant zurück. Er war 1859 so erschüttert vom Elend verwundeter Soldaten auf dem Schlachtfeld von Solferino in Italien, dass er neutrale Hilfsgesellschaften zur Versorgung verwundeter Soldaten vorschlug. Daraus entstand 1863 die Rotkreuz-Bewegung. Zudem einigten sich 1864 Regierungsvertreter auf das erste Genfer Abkommen über den Schutz von Verwundeten und die Neutralität des Sanitätspersonals. 

Dieser Grundstein des humanitären Völkerrechts wurde 1949 bei einer diplomatischen Konferenz mit knapp 20 Staaten ergänzt. Inzwischen haben 196 Länder die Genfer Konventionen ratifiziert. 

Was die Konventionen schützen

Die vier Konventionen bestimmen die Behandlung von Verwundeten und Kranken an Land und auf See, den würdigen Umgang mit Kriegsgefangenen und den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, im eigenen Land oder besetzten Gebieten. Dazu gab es später Zusatzprotokolle, unter anderem zur Anwendung des humanitären Völkerrechts auch bei innerstaatlichen Konflikten. «Die Regeln der Genfer Konventionen und der Zusatzprotokolle von 1977 sind heute weitgehend ins Völkergewohnheitsrecht eingegangen und gelten für alle Staaten und alle Konfliktparteien», präzisiert das Schweizer Außenministerium.

Die Verstöße

Wenn Russland Raketen auf Wohnhäuser in der Ukraine abfeuert, wenn Israel zur Zerstörung einer Terrorzelle im Gazastreifen Gebäude in Schutt und Asche legt, wenn Kriegsparteien im Sudan Städte belagern und Hunderttausende zum Hungern verdammen: Das könnten Verstöße gegen die Genfer Konventionen sein. 

Die USA versuchten, die Konventionen auszuhebeln: Sie bezeichneten mutmaßliche Drahtzieher der Terroranschläge von 2001, die sie festgenommen hatten, als «unlawful combattants» (ungesetzliche Kämpfer), die nicht geschützt seien. Rechtsexperten wiesen das zurück. Ebenso verletzt die Terrororganisation Hamas die Konventionen, wenn sie aus Moscheen heraus Raketen auf Israel abfeuert oder Zivilisten als Schutzschilde missbraucht.

Verlieren die Konventionen also an Bedeutung? 

Zwar gibt es in den Genfer Konventionen keine Sanktionen, aber sie würden oft herangezogen, um Missachtung zu ahnden, sagt Rechtswissenschaftler Thielbörger. So seien die EU-Sanktionen gegen Russland mit Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht in der Ukraine begründet worden, ebenso die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, sowie gegen israelische Politiker und Hamas-Funktionäre. «Das Völkerstrafrecht hilft hier also, das humanitäre Völkerrecht durchzusetzen», sagte er der dpa. 

Zudem änderten Staatsvertreter mit Blick auf das humanitäre Völkerrecht Äußerungen und Handlungen, etwa, was Waffenlieferungen an Israel angehe. «Dies liegt eben auch an der Sorge, dass mit diesen Waffen im Gazastreifen Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen werden könnten. Das humanitäre Völkerrecht hat also auch hier direkten Einfluss auf nationale Außenpolitik.»

Problem: nicht staatliche Akteure 

1949 gingen die Unterzeichner von staatlichen Akteuren in bewaffneten Konflikten aus, aber immer öfter sind an Konflikten andere bewaffnete Gruppen beteiligt. Erst waren es Befreiungsbewegungen im Kampf gegen Kolonialmächte, heute sind es zum Beispiel die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah-Miliz im Libanon oder die Huthi im Jemen. Auch für sie gilt spätestens seit den Zusatzprotokollen von 1977 das humanitäre Völkerrecht. Thielbörger verweist auch auf das Völkergewohnheitsrecht, Regeln, die auch ohne Vertrag bestehen und ein Mindestmaß an Menschlichkeit verlangen. «Dieses Gewohnheitsrecht ist im Völkerrecht besonders wichtig und entwickelt sich ständig fort, ohne dass alle Staaten einen neuen Vertrag unterschreiben müssen, was oft schwierig ist und lange dauert», sagt er.

Was ist zu tun, um die Einhaltung zu fördern?

«Staaten und Konfliktparteien müssen nun mit gutem Beispiel vorangehen» verlangt Laurent Gisel, Jurist des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). «Die Einhaltung des Kriegsrechts zu einer politischen Priorität zu erheben, ist unerlässlich, um sicherzustellen, dass diese Gesetze die Menschheit in Konfliktzeiten weiterhin schützen.»

 

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