Vor 100 und vor 50 Jahren

Chronik Juli: Von Zirkus bis Kästner

Chronik Juli: Von Zirkus bis Kästner

Chronik Juli: Von Zirkus bis Kästner

Jürgen Ostwald
Jürgen Ostwald Freier Mitarbeiter
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Die Abbildung mit dem berühmten Zirkus Miehe stammt nicht von 1924, sondern von 1907. Sie zeigt auch nicht eine Stadt in Nordschleswig, gibt aber doch einen Eindruck der eigenartigen Atmosphäre, die jeder kennt, der einmal einen Zirkus besucht hat. Mehr zu einer Aufführung unter dem 26. Juli 1924. Foto: Illustreret Tidende 1907, Franz Šedivý (1864-1945) Foto: Illustreret Tidende, Franz Šedivy

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Die Schlagzeilen von diesem Juli sind ganz anders als noch vor 100 und vor 50 Jahren. Jürgen Ostwald hat im Archiv die Zeitungen durchforstet und nimmt die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit.

Foto: DN

Mittwoch, 2. Juli 1924
Der Grundstein der neuen Kirche in Woyens, der ersten, die unter dänischer Herrschaft in Nordschleswig gebaut wird, wurde am Sonntag gelegt. 

Die neue Kirche in Woyens (Vojens) wurde 1925 eingeweiht. Sie stammt von dem Architekten Hans J. Huusmann, der sie in einem zurückhaltenden gotisierenden Anpassungs-Stil entwarf. Es gibt noch andere bemerkenswerte Neubauten in Nordschleswig im 20. Jahrhundert. Etwa die katholische Kirche in Apenrade, eingeweiht 1937, die ähnlich wie die Kirche in Woyens auf historische Architektursprache zurückgreift, aber nicht auf die jütländische Tradition. Der Apenrader (Aabenraa) Kirchturm, ebenso auf italienische Anregungen zurückgreifend, stammt erst von 1957! Und wir müssen natürlich die Christianskirche in Sonderburg (Sønderborg) nennen, die von Kaare Klindt stammt, der sich in seinem Entwurf von der Grundtwigskirche in Kopenhagen anregen ließ.

Die neue Kirche in Woyens (Vojens), die 1925 eingeweiht wird. Foto: Kirchengemeinde Woyens
Sonnabend, 5. Juli 1924
Ein Massenmörder
In Hannover wurde der Händler Haarmann verhaftet. Er hat sieben Morde eingestanden. Durch Ermittlungen der Polizei wurde aus den in seiner Wohnung vorgefundenen Kleidungsstücken festgestellt, dass fünf weitere Burschen, die als vermisst gemeldet waren, zu seinen Opfern zu zählen sind. Haarmann, der bei früheren Straftaten, besonders Sittlichkeitsverbrechen, Einbruchsdiebstählen sowie zahlreichen kleineren Vergehen als unzurechnungsfähig erklärt worden war, behauptete bei den ihm gemachten Vorhaltungen, sich nur sehr wenig auf die einzelnen Ereignisse entsinnen zu können. Schon 1919 fiel der Verdacht auf ihn, zwei Burschen beseitigt zu haben. Das Strafverfahren gegen ihn wurde jedoch eingestellt, weil die Durchsuchungen und sonstigen Ermittlungen ohne positives Ergebnis blieben.

Am Dienstag, dem 9. Juli, ergänzte unsere Zeitung die obige Meldung wie folgt: „Aus Hannover wird gemeldet: Auf Grund der Erkennung von Kleidungsstücken durch Angehörige von Vermissten können etwa 22 Opfer des Massenmörders Haarmann als festgestellt angesehen werden. Den letzten Mord hat Haarmann acht Tage vor deiner Verhaftung verübt. Die Leine, deren Wasserstand zuvor gesenkt worden war, wurde von der Polizei nach Überresten der Opfer abgesucht. Es fanden sich dabei noch etwa drei große Säcke menschlicher Knochen. Inzwischen sind auch einige menschliche Fleischteile angeschwemmt worden.“ Der Massenmörder Fritz Haarmann wurde im Dezember 1924 zum Tode verurteilt. Seinen Opfern – Jugendliche und junge Männer – wurde auf dem Stadtfriedhof Stöcken in Hannover eine Gedenkstätte (siehe Abb.) errichtet. Noch heute ist die Figur des Massenmörders im (deutschen) öffentlichen Bewusstsein. Moritaten und Songs, Grafische Zyklen und Bronzekunstwerke, Filme und Graphic Novels usw. taten das ihrige, die Erinnerung an die grauenhaften Morde und den Täter wachzuhalten. Die völlige Abartigkeit hat offenbar immer eine besondere Anziehungskraft. Wer kennt nicht die Zeilen des Operettentextes von Rene Kollo „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir …“
Grabstätte der Opfer Fritz Haarmanns in Hannover. Foto: Tim Schredder
Dienstag, 15. Juli 1924
Eine Dante-Säule in Kopenhagen
In nächster Zeit wird vor der Glyptothek eine Dante-Säule errichtet. Auf der zwölf Meter hohen Säule wird eine Beatrice-Figur ihren Platz erhalten. Die Errichtung der Säule geht zurück auf eine Anregung des Königs Viktor Emanuel, der 
vor einigen Jahren Kopenhagen besuchte und der Stadt eine Säule vom Forum Romanum als Geschenk überwies.
 
Der italienische König, Viktor Emanuel III. war im Juni 1922 zum Staatsbesuch in Dänemark. Er legte mit König Christian X. den Grundstein zur Dantesäule. Wir berichteten in unserer Chronik. 1921 wurde in Kopenhagen beschlossen, zum 600. Geburtstag Dantes, er starb am 14. September 1321, ein großes Denkmal zu errichten. 1924 war es fertig. Auf einer hohen antiken Säule, einem Geschenk der Stadt Rom, erhebt sich die Figur der Beatrice als Genius der Poesie. Beatrice war die von Dante in seinen Dichtungen verklärte Liebe seiner Jugend. Er sah sie nur wenige Male, „da geschah es“, wie Dante schrieb, „dass die bewunderungswürdige Herrin, in reinstes weiß gekleidet (…) mir zu Gesichte kam. Und indem sie des Weges dahinging, wendete sie die Augen nach dem Orte, wo ich in großem Zagen stand, und vermöge ihrer unaussprechlichen Freundlichkeit (…) grüßte sie mich so tugendlich, dass ich das Endziel aller Seligkeit zu sehen vermeinte. Die Stunde, wo ihr süßester Gruß zu mir gelangte, war genau die neunte jenes Tages. Und weil dies das erstemal war, dass ihre Worte zu meinen Ohren den weg genommen, überkam mich ein solches Wohlgefühl, dass ich wie berauscht mich von den Menschen hinweg in die Einsamkeit meiner Kammer flüchtete und mich dort niederließ, um der Holdseligsten zu gedenken.“ Beatrice starb mit 24 Jahren 1290. Die Liebe Dantes erfährt nach und nach eine vollständige Vergeistigung. Beatrice wird dabei sogar zu seiner theologischen Führerin. Die Liebe Dantes zu Beatrice bewegt bis auf den heutigen Tag jeden intensiv. Es gibt kein Denkmal in Kopenhagen, das einen so sehr persönlich anspricht und gefangennimmt wie jenes auf dem Danteplatz während eines Blickes zu Beatrice, die hoch oben und unerreichbar auf ihrer Säule steht. Die große Kopenhagener Bronzefigur wurde von Einar Utzon-Frank (1888–1955) geschaffen, von dem wir in Nordschleswig nur kleinere Arbeiten haben, etwa „Das weinende Kind “(Sønderjyllands Kunstmuseum) und „Die Frau des Künstlers“ von 1912 (Trapholt Museum).

 

Dienstag, 15. Juli 1924
Auf dem Kirchhof zu Alt-Hadersleben wurde ein Gedenkstein für Propst Nissen enthüllt, welcher als Kandidat für die Bischofswahl kurz vor dieser verstarb.

Der Gedenkstein findet sich noch heute in Alt-Hadersleben. Jørgen Nissen (1861–1923) war ein damals bekannter Geistlicher. Er war in seinem Geburtsort Alt-Hadersleben seit 1920 tätig und war der dänische Nachfolger des deutschen Pastors Hans Schlaikier Prahl. Nissen war als Kandidat für die Bischofswahl des neugegründeten Haderslebener (Haderslev) Stifts vorgesehen. Er wäre auch wohl gewählt worden, doch starb er überraschend am 4. Januar 1923 in seiner Heimatstadt.
 

Sonnabend, 26. Juli 1924
Der Zirkus Miehe in Sonderburg
Der Zirkus Miehe hatte gestern Abend zur Eröffnungsvorstellung ein fast ausverkauftes Zelt. Schon äußerlich macht der Zirkus einen guten Eindruck. Diesementsprechen die Leistungen, die in schneller Folge wie die bunten Bilder eines 
Kaleidoskops sich unter lebhaftem Beifall abrollen. Eine hübsche Nummer von vier Kunstradfahrern eröffnete den Reigen. Dann kamen einige Dressuren, von denen namentlich der „kluge Carlo“ zu nennen ist, ein Vetter des Berliner „klugen Hans“ des Herrn v. Osten, der vor etwa 15 Jahren die große Öffentlichkeit beschäftigte. Eine Glanznummer sind die fünf Knapstrupper, von Frau Direktor Miehe-Pfänner in Freiheit vorgeführt. Eine Reihe tüchtiger Akrobaten fand mit Recht den Beifall der Sportfreunde. Allen voran sind die „Gebrüder Mijare“ mit ihren Balancierkünsten auf dem schwankenden Seil zu nennen, die so halsbrecherisch sind und doch wie spielend ausgeführt werden. Als rechter Kraftmensch erwies sich „der dänische Sandow“, der u. a. ein dickes Fernsprechbuch durchreißt. Der Besuch des Unternehmens ist jedenfalls empfehlenswert. Heute Abend findet eine, am morgigen Sonntag finden zwei Vorstellungen statt.


Den Zirkus Miehe gibt es seit 1958 nicht mehr, aber im öffentlichen Bewusstsein ist der Name immer noch präsent. Er war eben der bekannteste Zirkus in der langen dänischen Zirkusgeschichte. Dora Miehe (1868-1945), „den største dame i dansk 
cirkushistorie“, wie der Zirkushistoriker Kurt Møller Madsen schrieb, war über Jahrzehnte die rührige Prinzipalin. Das bestätigten auch etwa Holger Drachmann oder Herman Bang.

 

Dienstag, 29. Juli 1924
Bei den Pariser Olympischen Spielen, die unter Ausschluss Deutschlands stattfanden, erlangten die Mannschaften folgende Plätze: 1. Amerika mit 94 Punkten, 2. Frankreich mit 64, 3. Schweden mit 44 ½, 4. England mit 41 ½, 5. Finnland mit 34 Punkten. Dänemark musste sich mit 17 Punkten mit dem 11. Platz begnügen.

Diese Nachricht ist die einzige Notiz zu den damaligen Olympischen Spielen. Der Zorn über den Ausschluss Deutschlands wegen des Ersten Weltkriegs (Kriegsschuld) erklärt das Schweigen unserer Zeitung. Eine Würdigung der dänischen Siege wäre eigentlich angebracht gewesen; den Grenzrevisionisten fehlte allerdings auch hier jedes angemessene Empfinden und so kam es nur zu der eher wegwerfenden Bemerkung.

Mittwoch, 30. Juli 1924
Der Zustand des Düppeldenkmals
Auf dem Verbandstag, den der „Verband der Vereine ehemaliger deutscher Soldaten im abgetretenen Nordschleswig“ in Hadersleben abhielt, wurde durch Kameraden aus Sonderburg Klage erhoben über den unwürdigen Zustand, in dem die Umgebung des deutschen Denkmals auf Düppel sich befindet. „Da das Eigentumsrecht auf das Schanzengelände auf den dänischen Staat übergegangen und uns nicht gestattet ist, die Stätte und das Denkmal, für uns ein heiliger Ort, der 50 Jahre hindurch immer in einem geziemenden Zustand gehalten worden ist, zu pflegen, beschloss die Versammlung, sich an den Minister des Inneren zu wenden wie folgt: Als ehemalige deutsche Soldaten, von denen die meisten Kombattanten des Weltkriegs sind, bedauern wir, dass diese historische Stätte einer so pietätlosen Behandlungen ausgesetzt ist. Als dänische Staatsbürger bitten wir das Hohe Ministerium, dasselbe wolle sichs angelegen sein lassen, das Denkmal und seine Umgebung in gleicher Weise zu hegen und zu pflegen, wie es vor der Abtretung Nordschleswigs an Dänemark geschah. Wenn der Staatsminister versprochen hat, diese denkwürdige Stätte‘ schützen zu wollen, so erwarten wir, dass das deutsche Denkmal nicht ausgeschlossen werden wird. Wir wissen wohl, dass die Regierung das Denkmal gegen Beschädigungen, die fanatische Buben ausüben, nicht schützen kann; aber wir sind auch davon überzeugt, dass eine Vernachlässigung der Gedenkstätte solche Elemente gerade ermutigt, ihre Untaten auszuüben.“ Verband der Vereine ehemaliger deutscher Soldaten im abgetretenen Nordschleswig.

Von einer Antwort des sozialdemokratischen Innenministers C. N. Hauge (1870–1940) im Kabinett Staunig ist nichts bekannt. Zwanzig Jahre später, am 13. Mai 1945, wurde das 22 Meter hohe Denkmal tatsächlich und durch nächtliche Sprengung vollständig Opfer „fanatischer Buben“. Dasselbe Schicksal widerfuhr wenig später dem Arnkiel-Denkmal, dann dem Knivsbergturm.
Foto: DN
Donnerstag, 11. Juli 1974
Ein Wegbereiter der Renaissance
Vor 600 Jahren, am 18. 7. 1374 starb in Aequa bei Padua Francesco Petrarca (…). Berühmt wurde seine Gedichtsammlung „Canzoniere“, an der Petrarca ein Leben lang formte und feilte, und in der persönliche Gefühle und Empfindungen die tragenden Pfeiler sind. (…)
 
Im Petrarca-Jahr 1974 erschienen ungezählte Bücher und Aufsätze, es wurden Briefmarken und Gedenkmünzen gedruckt und geprägt, Kongresse und Ausstellungen gab es. Auch unsere Zeitung erinnerte an den italienischen Humanisten und Dichter; ein größerer Aufsatz einer preiswerten Feuilleton-Korrespondenz wurde eingekauft (siehe oben), ein heute vergessener Journalist schrieb ihn. Ob man sagen darf, dass „Gefühle und Empfindungen die tragenden Pfeiler sind“, sei allerdings dahingestellt. Auch wer niemals Arbeiten Petrarcas gelesen hat, auch kein einziges Gedicht aus seinen „Canzoniere“, den Huldigungsversen an seine imaginäre Geliebte Laura kennt, ist er doch mit ihm bekannt: Der venezianische Büchermacher und Verleger Aldus Manutius – „er war ein Editor und Verleger, wie die Welt wenige gehabt hat“, wie Jacob Burckhardt in seiner „Kultur der Renaissance“ in Italien schrieb – Aldus Manutius also suchte um 1500 für seine buchkünstlerisch unübertroffenen Editionen, die „Aldinen“, wie die Buchwissenschaft sie nennt, eine neue Drucktype. Und er erfand die Kursiv-Schrift, jene schrägliegende Type, in der der Text gesetzt ist, den Sie gerade lesen. Sie geht, so will es die Überlieferung, zurück auf die Handschrift Petrarcas.

Dienstag, 30. Juli 1974
Erich Kästner gestorben
Der Schriftsteller Erich Kästner ist gestern Morgen gegen sieben Uhr in einem Münchner Krankenhaus gestorben. Der Dichter hatte am 23. Februar dieses Jahres seinen 75. Geburtstag feiern können. Mit Erich Kästner hat das deutschsprachige Schrifttum einen Literaten verloren, der die „Spießbürger“ wie nur wenige andere in treffsicheren Witz aufs Korn zu nehmen verstand. Der vielseitige Autor hatte die seltene Gabe, naiv zu sein wie die Kinder, für die er „Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“, „Das fliegende Klassenzimmer“ und „Pünktchen und Anton“ schrieb, und zugleich als wachsamer Geist seiner Zeit den Spiegel des Satirikers vorzuhalten. Das PEN-Zentrum der Bundesrepublik hatte ihn zum Ehrenpräsidenten gewählt.

Erich Kästner ist natürlich auch heute noch ein bekannter Autor. Seine Bücher sind in kaum zu überblickender Anzahl im deutschen Buchhandel präsent, besonders seine Kinderbücher. Aber auch in Dänemark wurde man früh auf Kästner aufmerksam. „Pünktchen und Anton. Ein Roman für Kinder“ war 1930 in Berlin erschienen; 1932 gab es bereits die dänische Übersetzung in Kopenhagen. Im Jahr darauf, im Juni 1933, schrieb Christian Jenssen in der nunmehr gleichgeschalteten „Berliner Börsen-Zeitung“ über Erich Kästner: „Die Hemmungs- und Schamlosigkeit, für die Gotteslästerung schon Lyrik war, ist seines Wesens bestimmender Teil geblieben. Ihr hat er eine geradezu teuflische Phantasie und Wortwendigkeit nutzbar gemacht in den Versbüchern und Reimereien, die in frecher Überheblichkeit Geist und Gefühl fratzenhaft verzerren oder mit nahezu sadistischer Lust verzerrten.“ Jenssen empörte sich, dass „ein so lebensfremder Schattenfänger hinging und Kinderbücher schrieb.“ Kästners Bücher brannten auf den Scheiterhaufen der Nazis. „Das fliegende Klassenzimmer“ erhielt wie alle seine Bücher Publikationsverbot und musste ab 1935 in Zürich erscheinen (dänisch 1952). Christian Jenssen (1905–1996) war Mitgründer des nationalsozialistischen Eutiner Dichterkreises und ein gern gesehener Gast in Nordschleswig. Noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg präsentierte er durch seinen Bekannten, den BDN-Generalsekretär Rudolf Stehr, die beiden alten NS-Dichter Claudius und Blunck dem Schüler-Publikum des Deutschen Gymnasiums in Apenrade als Beispiele zeitgenössischer deutscher Literatur !! - Kästner wurde, wie oben schon erwähnt, auch in Dänemark verlegt, seit 1932. Hier begannen seine Bücher vermehrt seit dem Zeitpunkt zu erscheinen, an dem er in Deutschland Publikationsverbot erhalten hatte und seine Bücher dem Feuer überantwortet wurden. Piet Hein schrieb in Kopenhagen über ihn. „Drei Männer im Schnee“ erschien nach „Pünktchen und Anton“ dänisch 1935, „Die verschwundene Miniatur“ 1936, „Emil und die Detektive“ ebenfalls 1936, „Der kleine Grenzverkehr“ 1938. Wer aber war Kästners dänischer Übersetzer? Wir wollen ihn nennen und zugleich ein bislang ungeschriebenes Kapitel deutsch-dänischer Geschichte aufschlagen, das es eigentlich verdient hätte, ausführlicher dargestellt zu werden. Kästners damaliger dänischer Übersetzer war Herbert Steinthal (1913–1986). Er wurde in Berlin geboren. Dort war sein Vater, Thorvald Steinthal, der 1880 in Vestervig in Nordjütland geboren worden und Journalist geworden war, seit 1913 tätig. Er starb 1952 in Kopenhagen. In seiner über 30-jährigen Zeit in Deutschland war er lange Jahre bis 1935 der Berlin-Korrespondent von „Politiken“. Er war der Gründer des Verbandes der ausländischen Presse in Deutschland, mehrmals ihr Präsident und Vizepräsident. Mitte Dezember erhielt er einen Brief. Es war die Ausweisung, er habe binnen 24 Stunden das Reichsgebiet zu verlassen. In einer offiziellen Mitteilung, die in zahlreichen in- und ausländischen Zeitungen wiedergegeben wurde (Steinthal war damals eine bekannte Pressegröße in Berlin), heißt es: „Steinthal hat durch fortgesetzte unwahre und gehässige Berichterstattung an seine Zeitung die Interessen des Deutschen Reiches wiederholt schwer geschädigt und die Pflichten des Gastrechts, das ihm in Deutschland seit Jahren gewährt wurde, aufs gröbste verletzt.“ Der Sohn Herbert hatte in Berlin das Gymnasium besucht und war seit 1933 Student an der Humboldt-Universität. In dieser Zeit hat er Erich Kästner kennengelernt. Als Jude konnte Steinthal jedoch in Deutschland sein Studium nicht fortsetzen. Er ging nach Kopenhagen, wo ihn 1935 Erich Kästner besuchte. Steinthal übersetzte neben Kästner besonders Emigranten und in Deutschland als „entartet“ geltende Autoren. So erschien etwa während der Besetzung 1944 Kafkas „In der Strafkolonie“ in Kopenhagen auf Dänisch. Nach dem Krieg übersetzte er namentlich Heinrich Böll, mit dem er einen ausführlichen Briefwechsel führte. In Dänemark ist Steinthal heute eher als Theater- und Filmkritiker bekannt. Seit 1939 war er seinerseits Mitarbeiter bei „Politiken“. Er starb 1986 in Kopenhagen.



 

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