Leitartikel

„Das weiße Heer“

Das weiße Heer

Das weiße Heer

Nordschleswig/Kopenhagen
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Kollektive Kündigungen und Horrorgeschichten aus den Krankenhäusern: Das dänische Gesundheitswesen ist unter Druck – und das nicht nur wegen der Corona-Pandemie, meint Chefredakteur Gwyn Nissen.

Die erste Region greift jetzt zum Portemonnaie und zahlt den Krankenschwestern mehr Gehalt: 30 Millionen Kronen macht die Region Seeland locker, um die Krankenschwestern zu beschwichtigen und sie im Krankenhauswesen zu halten. Denn den Krankenhaus-Betreibern laufen in diesen Tagen die Mitarbeiterinnen davon – die haben einfach die Nase voll.

Die Region Seeland wird nicht die letzte Region sein, die zur Kasse greift. Auch die Regierung will jetzt nachzahlen, und andere Regionen werden ebenfalls folgen. Das ist an sich schon eine Farce, zumal dieselben Regionen im Sommer keine einzige Extra-Krone locker machen wollten und es zum Krankenschwestern-Konflikt kam. 69 Tage lang streikten die Mitarbeiterinnen, danach wurden sie nach einem Regierungseingriff zurück zur Arbeit gezwungen.

Zuvor hatten die Krankenschwestern im Kampf gegen das Coronavirus ein ganzes Jahr in vorderster Front gestanden und dafür höchstens Worte der Anerkennung oder ein Honigkuchenherz erhalten. Staat und Regionen hätten sich viel Ärger ersparen können – und dafür zufriedenere Mitarbeiterinnen.

Doch die Unzufriedenheit in den Krankenhäusern liegt viel tiefer: eine uralte und ungerechte Beamten-Reform, die Frauen-Jobs schlechter entlohnt als Männer-Jobs, und ein Krankenhauswesen, das jahrelang einer Effizienz- und Kosten-Jagd unterzogen worden ist, haben insgesamt für viel Disharmonie und Unzufriedenheit gesorgt.

Langjährige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in allen Bereichen des Gesundheitswesens sind mit ihrem Protest aber noch lange nicht durch: Dienstag forderte ein Krankenpfleger zur kollektiven Kündigung auf. Ein solcher Schritt ist wahrscheinlich gesetzeswidrig, aber es zeigt eben noch die Kampfbereitschaft – oder auch die Machtlosigkeit, gegen das dänische Gesundheitssystem anzukämpfen.

Eine Krankenschwester berichtete dem dänischen Radiosender „DR P1“, dass sie in einer normalen Schicht in Dänemark die Verantwortung für acht bis zwölf, manchmal sogar 15 Patienten und darüber hinaus noch andere Aufgaben hatte. Jetzt, wo sie in Norwegen angestellt ist, durfte sie drei krebskranke Patienten pflegen. Andere Krankenschwestern berichten, dass Patienten sterben, weil sie heute wegen der Personalnot nicht die nötige Pflege erhalten.

Auch Ärzte berichten in diesen Tagen, dass sich der „Patient“ Krankenhaus in akuter Not befindet. Und das nicht nur wegen der Corona-Pandemie, sondern weil das dänische Gesundheitssystem in viel zu straffen Zügeln gehalten wird.

Eins haben die Mitarbeiterinnen und die Regionalpolitiker dennoch gemeinsam: sie wollen die Politik auf Christiansborg wecken, denn letztendlich bestimmt das Folketing den finanziellen Rahmen für das Gesundheitswesen – und der Rahmen ist inzwischen eindeutig zu klein.

Die kollektive Kündigung einer größeren Gruppe Mitarbeiter kann vielleicht hier und jetzt verhindert werden. Auf längere Sicht sind die Konsequenzen aber dieselben: Zu viele Krankenschwestern sickern nach und nach aus den Krankenhäusern – und bald fehlt dann auch der Nachwuchs.

Es müssen schon demnächst zukunftsweisende Lösungen gefunden werden – sonst stehen wir heute nur am Anfang einer drohenden Gesundheitskrise.

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