Diese Woche in Kopenhagen

„Demokratie ist nicht gleich Demokratie: Vom deutschen Vertrauen und dänischen Misstrauen“

Demokratie und Demokratie: Vom deutschen Vertrauen und dänischen Misstrauen

Demokratie: Deutsches Vertrauen und dänisches Misstrauen

Walter Turnowsky
Kopenhagen
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Vorgezogene Neuwahlen sind in Deutschland eine absolute Ausnahme. In Dänemark sind sie vollkommen normal. Walter Turnowsky erklärt, warum es diese und andere Unterschiede gibt.

Wenn man von Kopenhagen nach Berlin blickt, kann einem schon mal die Kinnlade runterfallen. 

Ich meine jetzt nicht den Zusammenbruch der Ampelkoalition – der war über kurz oder lang abzusehen. Auch nicht den Dauerstreit innerhalb der Koalition. Zwar werden solche Konflikte in Dänemark üblicherweise hinter den dicht verschlossenen Türen des Staatsministeriums ausgetragen, aber dass unterschiedliche Parteien uneinig sein können, ist nun wahrlich keine Sensation.

Wahl innerhalb von drei Wochen

Die eingangs erwähnte Reaktion ereignete sich am Freitag, und ich arbeite immer noch daran, den Mund zuzukriegen. „Die Bundeswahlleiterin warnt vor ‚unabwägbaren Risiken‘ bei einer Neuwahl im Januar“, konnte ich im „Spiegel“ lesen.

Echt jetzt? Gut zwei Monate reichen nicht aus, um eine Wahl vorzubereiten, weil Weihnachten dazwischenfällt?  

In Dänemark finden, solange ich mich erinnern kann, Folketingswahlen immer innerhalb von drei Wochen statt (es waren auch schon mal ein oder zwei Tage weniger). Und das hat immer funktioniert – auch, ohne dass zum Beispiel im Kopenhagener Wahlkreis „Brønshøj“ mitten in der Legislaturperiode Neuwahlen stattfinden müssen, weil beim ersten Mal nicht alles so hundert Prozent geklappt hat.

Möglicher Exportschlager?

Vielleicht hat Dänemark hier ja ein bislang unerkanntes Exportpotenzial: Wahlen im Schnellverfahren. Ich schätze mal, viele Bundesbürgerinnen und -bürger wären dankbar, wenn die jetzige Situation bald überstanden wäre.

Nicht dass ich – treue Leserinnen und Leser dieser Kolumne werden das bestätigen können – in der dänischen Politik alles nur toll finde. Auch gehöre ich nicht zu jenen, die meinen, wenn die deutsche Politik es nur wie die Däninnen und Dänen machen würde, verschwände die AfD, und die Digitalisierung würde nur so flutschen.

Die Staatsministerin schreibt die Wahl aus

Doch zurück zur Wahl und vor allem zur Wahlausschreibung. Da gibt es nämlich auch ganz erhebliche Unterschiede zwischen Dänemark und Deutschland. Diese kann ich nicht nur verstehen, sondern sogar – denke ich zumindest – erklären. 

In Dänemark entscheidet eine und nur eine Person, wann Wahlen ausgeschrieben werden: nämlich die Staatsministerin oder der Staatsminister – es muss nur vor Ende der Legislaturperiode geschehen. 

Wenig überraschend ist daher, dass die Regierungschefinnen und -chefs dies ausgenutzt haben, um die Wahl zu einem aus ihrer Sicht taktisch günstigen Termin auszuschreiben. Sie findet zwar schon mal nah am spätestmöglichen Wahltermin statt, jedoch nie an diesem Tag selbst. 

Die Vertrauensfrage und die Weimarer Republik

In Deutschland kann die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler das ebenso wenig wie der Bundestag. Daher muss Olaf Scholz jetzt die Vertrauensfrage stellen, damit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dann vorgezogene Neuwahlen ausschreiben kann. 

Der Grund dafür waren die Erfahrungen aus der Weimarer Republik, wo zwischen 1920 und 1933 acht Reichstagswahlen stattfanden. Dieser politischen Instabilität wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes einen Riegel vorschieben, und deshalb sind vorgezogene Wahlen in Deutschland nur unter besonderen Umständen möglich. Sie haben folgerichtig seit 1949 bislang auch nur zweimal stattgefunden. 

Ein weiterer entscheidender Unterschied ist, dass Olaf Scholz in einem dänischen Kontext vermutlich bereits jetzt nicht mehr Regierungschef wäre. Das Folketing hätte ihm einen Misstrauensantrag gestellt (realpolitisch wäre er noch vorher zurückgetreten oder hätte Neuwahlen ausgeschrieben). 

Misstrauen als Grundstein

Der Bundestag kann das nicht, und wiederum liegt das an den Erfahrungen aus der Weimarer Republik. Laut Grundgesetz kann das deutsche Parlament nur einen Misstrauensantrag gegen ein Regierungsmitglied stellen, wenn eine Mehrheit gleichzeitig eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger wählt. Wer mit seinem politologischen Wissen angeben möchte, nennt das „konstruktiven Misstrauensantrag“.  

In Dänemark ist die Möglichkeit des Misstrauensantrags dagegen geradezu ein tragender Pfeiler des parlamentarischen Systems. Um das zu verstehen, müssen wir sogar noch weiter in die Geschichte zurückblicken als in Deutschland, und zwar auf das Jahr 1901. 

Bekanntlich ist das dänische Grundgesetz gut 50 Jahre älter, aber so richtig demokratisch ging es zunächst nicht zu. So ernannte der König Regierungschefs von der konservativen Partei Højre, ganz egal, wie die Mehrheitsverhältnisse im Folketing aussahen. 

Der Systemwechsel

Das Doofe an der Sache war, dass es dann irgendwann für das Haushaltsgesetz keine Mehrheit mehr gab. Das löste die Højre-Regierung mehr als zehn Jahre lang, indem sie mithilfe von provisorischen Haushalten regierte.

Das wurde den Oppositionspolitikern von der liberalen Bauernpartei Venstre dann allmählich zu blöd und sie drohten mit einem Aufstand. Die Parteiführung forderte die Bevölkerung auf, sich zu bewaffnen. Als Højre dann 1901 nur noch 8 von 113 Mandaten errang, war der König gezwungen, einen Venstrepolitiker zum Regierungschef zu ernennen.

Seit diesem Zeitpunkt steht fest, dass der König (oder später die Königin) keine Regierung ernennen kann, die eine Mehrheit gegen sich hat. Sollte es doch geschehen (was es natürlich nicht tut), würde das Folketing ihr postwendend einen Misstrauensantrag stellen. 

1901 ist daher als der Systemwechsel (systemskiftet) bekannt, der auch die Geburtsstunde des Parlamentarismus war. Allerdings wurde die Bestimmung erst 1955 ins Grundgesetz aufgenommen.

Scholz wäre in Dänemark abgewählt worden

Wäre Olaf Scholz also Regierungschef in Dänemark, ist anzunehmen, dass die FDP und/oder die CDU/CSU einen Misstrauensantrag gestellt hätten, nachdem die Liberalen aus der Koalition geflogen waren – und es dafür eine Mehrheit gegeben hätte. Und damit müsste er – nach dem dänischen Grundgesetz – sofort die Wahl ausschreiben. Außer er überlässt das Amt einer anderen Person, die dann allerdings auch keine Mehrheit gegen sich haben dürfte.

Es lassen sich also so einige der nicht ganz unerheblichen Unterschiede zwischen der deutschen und dänischen Politik aus der Geschichte und der Entwicklung erklären. Und jedes System passt zu seinem Land.

Und damit ist die Idee vom Exportschlager „Dänisches Wahlsystem“ vielleicht doch nicht so brillant, wie sie zunächst klang. 

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