Rezension

Im Koffergepäck Deutschland

Im Koffergepäck Deutschland

Im Koffergepäck Deutschland

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Lykke Friis Foto: Jonas Olufson/Ritzau Scanpix/Polfoto

Lykke Friis hat ein neues Buch über ein Deutschland im Umbruch und über die offene Frage, was nach der Ära Merkel kommt, geschrieben.

Lykke Friis hat es wieder einmal geschafft, mitten in ihrem aktivistischen Arbeitspensum ein neues Buch über Deutschland zu schreiben. Mit dem Titel „En kuffert i Berlin“  lehnt sie sich nicht nur bei der berühmten Marlene Dietrich an, sondern hat nun auch ein eigenes festes Reiseziel gefunden. Seit einiger Zeit ist die frühere Venstre-Ministerin und ehemalige Pro-Rektorin der Kopenhagener Uni Auslandskorrespondentin für „Berlingske“ in Berlin. Auf dem Koffer hat sie auch persönliche Duftmarken gesetzt: das Logo des Berliner Bären ist ebenso sichtbar wie Schwarz-Rot-Gold und die Vereinsembleme von Hertha BSC und FC  Bayern, wobei ihr Herz ja bekanntlich fußballerisch bisher stets für München höher geschlagen hat.

Das Buch steht unter einem Reisezitat von Johann Wolfgang Goethe „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“.  Dass mit ihr selbst eine besonders gescheite Person immer wieder nach Deutschland auf Reisen geht, macht ihr Buch interessanter, wobei es sich bei der politisch so begabten Journalistin und Kommentatorin nicht nur um ein aktuelles politisches Buch handelt. Sie kombiniert im typischen Lykke-Stil die große Politik mit einem  kleinen politisch-amüsanten Hand- und Reisebuch, denn sie liefert lohnende Tipps.

Da fehlt  Konrad Adenauers Heim in Rhöndorf  am Rhein ebenso wenig wie Angela Merkels erste westdeutsche Adresse in der Isestraße 95 in Harvestehude, der Nürnberger Justizpalast, der  Kaiserdom zu Speyer, wo Helmut Kohl beigesetzt wurde, der Deidesheimer Hof, wo Kohl seine Saumagen-Diplomatie (oft zur Plage  seiner ausländischen Staatsgäste) einsetzte, oder etwa die Kaiserstraße 78 in Würselen bei Aachen, wo SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz seinen Buchhandel hatte.  
Das alles  zeigt nicht nur die  journalistische Neugierde von Lykke, die mit einer deutschen Mutter aus Kiel und einem dänischen Vater aus Apenrade für sich ja mehr beansprucht als eine formelle doppelte Staatsbürgerschaft. Dänemark ist ihr Vaterland, Deutschland ihr Mutterland, so hat die 1969 geborene Lykke ihren inneren Kompass definiert.

„Sie ist zweifelsohne ein Glückstreffer“

Das ist natürlich ein Vorteil auf der – so der Untertitel des Buches – „Reise in Angela Merkels Deutschland“, vor allem auch wenn man  - im Gegensatz zu vielen ihrer dänischen Presse-Kollegen – auch die deutsche Sprache beherrscht und sich auch immer dafür eingesetzt hat, die Bedeutung Deutschland  stärker ins Bewusstsein der Dänen zu bringen.  Ihr  kompetenter deutsch-dänischer Kollege in Kopenhagen,  Marc-Christoph Wagner, hat Lykke in „Berlingske“ für dieses Buch fünf von sechs möglichen Sternen verliehen und darauf hingewiesen, dass Lykke „eine von den Besten ist, die Deutschland in Dänemark vermittelt“, will heißen den Dänen näherbringt.  
Sie ist zweifelsohne ein Glückstreffer in den deutsch-dänischen Beziehungen und keineswegs nur für die politische Elite, sondern auch für das dänische Volk, das Lykkes Deutschland-Storys ob im Fernsehen, in der Zeitung oder bei Vorträgen   – ohne jeden Vergleich – fast so populär verschlingt wie viele im Lande Hansi Hinterseers Musik.  

In erster Linie geht es natürlich um die große Politik, um Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt, nicht zuletzt aber um die Bundestagswahlen 2017 mit dem erstmaligen Einzug der rechten AfD, um die schwierigen Koalitionsverhandlungen und die Bildung der neuen/alten Großen Koalition.  „Man muss den mentalen Koffer packen und nach Deutschland reisen. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt: Deutschland befindet sich im Umbruch, und bald wird das Mutti-Mysterium eingeleitet mit der Frage: Wer wird Nachfolger(in) von Merkel, wenn die Merkel-Ära zu Ende geht?“, schreibt Lykke in ihrem Buch.

 

Ein Koffer in Berlin, erschienen im Verlag Gyldendal. Foto: Gyldendal

„Deutschand ist nicht Dänemark“

Wenn man bedenkt, wie über Nacht der Absturz des sozialdemokratischen Mr. 100 Prozent Martin Schulz erfolgte und wie jetzt die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD rasant abschmelzen, dann stellt sich natürlich die entscheidende Frage nach der deutschen Stabilität in der Berliner Republik, die just in einer Zeit, da sie auch von dänischen Politikern als Anker in Europa angesehen wird, zu kriseln beginnt. Das Regieren wird schwieriger, in Zukunft bedarf es vielleicht sogar mehr als drei Parteien, um in Berlin eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen.

Lykke wirft deshalb das dänische Stichwort Minderheits-Regierung in die Debatte, aber da mangelt es dann im Buch zum besseren Verständnis des dänischen Lesers an Hinweisen auf entscheidende  Unterschiede im parlamentarischen System zwischen Dänemark und Deutschland. Die stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Ministerin Julia Klöckner, sagte, angesprochen auf die Möglichkeiten einer Minderheitsregierung, kurz und bündig: „Deutschland ist nicht Dänemark.“

Das ist nicht nur eine geografische Binsenweisheit, sondern auch harte politische Realität, denn  während ein Kanzler in Deutschland eine Mehrheit hinter sich haben muss, um gewählt zu werden, reicht es in Dänemark, wenn der Staatsminister bei Amtsantritt nur nachweisen kann, dass er nicht sofort parlamentarisch in die Minderheit gerät. Und darüber hinaus hat das deutsche System auch eine zweite Kammer, den Bundesrat, der mit seinen wechselnden politischen Mehrheiten in den Ländern auch gewichtig mitredet – nach innen und außen. Und  wie sollte Deutschland in der jetzt so komplizierten und wahrlich nicht ungefährlichen Situation Europas mit einer Minderheits-Regierung mitgestalten?  Man denke nur an die Berliner Antworten auf den Brexit oder an Macrons EU-Visionen, die ja auch für Dänemarks Position neue Herausforderungen bringen können. Eine Grundgesetzänderung im Hinblick auf Bildung von Minderheitsregierungen ist nach den Erfahrungen von Weimar gegenwärtig in Deutschland überhaupt kein Thema.

Mit Interesse liest man Lykkes Betrachtungen zum Auslaufmodell Merkel, das Deutschland verdienstvoll über mehr als ein Jahrzehnt geprägt hat und das durch ihre Flüchtlingspolitik mit dem humanistischen Imperativ 2015 so tiefe Widerstände im Volk hervorgerufen hat. Die Nachfolge-Frage ist spannend: Kann Merkel selbst den Stab weiterreichen, oder wird ihr der Stab aus der Hand gerissen, jetzt nach der für sie alarmierenden Abwahl  ihres langjährigen Weggefährten CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden  Volker Kauder. Lykke hält zwei Namen für kanzler-verdächtig: sowohl  Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer als auch den eher etwas rechts angesiedelten junge Bundesminister Jens Spahn, wobei „AKK ja“ als Merkel-Vertraute gilt und viele Unionsabgeordnete zurzeit eher auf einen personalpolitischen  Neuanfang setzen. Wer weiß, vielleicht sogar mit Wolfgang Schäuble als „elder statesman“, als Übergangslösung?

Im Gegensatz zu früheren Lykke-Büchern über Deutschland und die Deutschen beschäftigt sie sich in ihrem neuen Buch auch mit einer wertepolitischen Debatte, die inzwischen verspätet auch Deutschland erfasst hat.  Es geht eben nicht mehr nur noch um die Ökonomie, wie es die letzte Bundestagswahl bewiesen hat. Es geht nun auch um Kultur, um die Frage, wie der nationale Zusammenhalt in einem europäischen Kontext gesichert werden kann, wie der Nationalstaat neben der EU seine Rolle spielen kann.

Eine Diskussion, die in Deutschland vor dem Hintergrund der  stets gegenwärtigen Geschichte beiseitegeschoben worden ist. Der Historiker Heinrich-August Winkler  forderte  kürzlich  „gerade Deutschland“ dazu auf, „sich nicht als moralische Leitnation in Europa aufzuführen. Auch wenn das immer wieder geschehe, weil es aufgrund der Geschichte einen Kompensationsbedarf in Deutschland gebe“, so Winkler.  

Welche Werte gelten heute noch  als „Leitkultur“?

Lykke nennt im Zusammenhang mit der Wertediskussion den traurigen Fall des Fußballers Özil.  Bei Özil ging es ja einerseits um den bösen Vorwurf des Rassismus in Deutschland, aber für viele Deutsche, auch in der Mitte, geht es heute auch um die Frage, welche Werte denn in Deutschland als „Leitkultur“ überhaupt noch für den Zusammenhalt allgemein gültig sind, ohne die gesellschaftliche Vielfalt zu gefährden.

Vor dem Hintergrund der offenen Diskussionen in Deutschland ist es noch zu früh zu sagen, wie Deutschland den Umbruch vollziehen wird, kommentiert Lykke, und man muss ehrlich einräumen, dass es heute  noch schwieriger ist als gestern, für Deutschland Prognosen abzugeben. Dennoch, wenn es eine leise Kritik an diesem Buch geben sollte, dann hätte man sich neben den vielen interessanten politischen Details zu Personen und Parteien und ihrem tiefen Brunnen an Zitaten und Anekdoten gewünscht, dass sich Lykke  in ihren Analysen auch mal selbst offen hervorgewagt hätte – mit eigenen Vorhersagen, mit eigenen Szenarien, ja, eventuell sogar inklusive Schreckensszenarien für die Zeit nach der Ära Merkel. Lykke zitierte am Anfang den großen Goethe.

Meine Rezension schließe ich mit einem anderen Reisezitat von Goethe: „Die Reise gleicht einem Spiel; es ist immer Gewinn und Verlust dabei und meist von der unerwarteten Seite.“ Lykkes Koffer in Berlin bleibt  im Unruhezustand gepackt, denn Überraschungen sind auch künftig auf der Reisestrecke zu erwarten.    
Ihre Deutschland-Reise ist längst noch nicht vorbei, und wir drücken dabei nicht nur ihr die Daumen, dass die deutsche Lokomotive Richtung Europa fährt! 

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