Leitartikel

„Giftige Hausapotheke“

Giftige Hausapotheke

Giftige Hausapotheke

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Kopenhagen
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Der Wahlkampf zum EU-Parlament hat gerade erst begonnen, aber es gibt bereits schwer verdauliche Kostproben des schlechten Geschmacks – leider nicht nur von rechten Köchen. Der frühere Chefredakteur Siegfried Matlok wirft ein Licht auf Schattenseiten der dänischen Migrationspolitik.

Ein politisches Bonmot auf und über Christiansborg: In Dänemark gibt es Parteien für jeden Geschmack – sogar für den schlechten! 

Über Geschmack lässt sich ja selbst im Gourmet-Wunderland Dänemark durchaus streiten, aber seit Jahren trägt hier zweifelsohne die Dänische Volkspartei das Schlusslicht. Und die Partei hat jetzt im Wahlkampf um die 15 Sitze im EU-Parlament einen neuen traurigen Rekord aufgestellt. 

Ihr Spitzenkandidat Anders Vistisen verkündete just am dänischen Befreiungstag des 5. Mai auf „X“ 30 Sekunden lang folgende Video-Botschaft: „In diesem Augenblick hat Mette Frederiksen mitgeteilt, dass die dänischen Politiker in Straßburg, Brüssel und Dänemark sich der Europäischen Union ergeben haben. Hier ist Anders Vistisen. Ich wiederhole.“ 

Alles klang wie eine Kopie der berühmten Freiheitsbotschaft vom Abend des 4. Mai 1945, als der dänische Rundfunksprecher Johannes Sørensen aus London via „BBC“ seinen Landsleuten meldete, „dass in diesem Augenblick Montgomery die Kapitulation der deutschen Truppen auch in Dänemark bekannt gegeben hat“. 

Eine dreiste DF-Nummer, die – wie erhofft – böse Empörung hervorrief. Sie war historisch unkorrekt, denn die Dänen „kapitulierten“ am 9. April 1940, aber den Nazi-Einmarsch in Dänemark mit der demokratischen Europäischen Union zu vergleichen, ging Außenminister Lars Løkke verständlicherweise entschieden zu weit. 

Respektlos und kopflos nannte er das DF-Video, Kirchenminister Morten Dahlin sprach sogar von einem Putsch am Befreiungstag, und Kulturminister Engel-Schmidt bezeichnet die Aktion als „beschämend“. Vistisen verteidigte sich mit dem Hinweis auf die Meinungsfreiheit, auf den dänischen Humor und lachte sich selbst ins Fäustchen: Er hatte innerhalb kürzester Zeit bereits zum zweiten Male nicht nur national große Aufmerksamkeit für seine Kandidatur hervorgerufen. 

Wenige Tage zuvor hatte er als inoffizieller Spitzenkandidat der europäischen Rechten bei einer TV-Debatte aller Spitzenkandidaten in Maastricht nach Ansicht des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ sogar „den Wirkungstreffer des Abends erzielt“, weil er Brüssel als „Sumpf“ bezeichnete und den anderen Parteien Korruption vorwarf. Sein medienwirksamer Gipfel war die Ankündigung bei Machtübernahme der Rechten: „Als Allererstes wird Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen entlassen.“

Wenn schon von Geschmack die Rede ist, dann muss man – leider notgedrungen – nicht nur die Dänische Volkspartei unter die Lupe nehmen. Denn bei der EU-Wahl am 9. Juni steht sozusagen erstmalig ein Thema auf der Tagesordnung, das bisher als schmerzhafte Achillesferse der Union galt: Erst nach zahlreichen vergeblichen Anläufen seit 2015 wurde wenige Wochen vor der Wahl mit knapper Mehrheit im bisherigen EU-Parlament eine einheitliche Migrationspolitik in der EU verabschiedet.

Die Verschärfung des Asylrechts ist nicht unumstritten, auch nicht in Dänemark. Zwar zeigte sich der sozialdemokratische Integrationsminister Kaare Dybvad „grundsätzlich zufrieden“ mit dem neuen EU-Paket, doch entscheidend ist für ihn, dass Dänemark wegen des bestehenden Rechtsvorbehalts gegen eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik nicht direkt beteiligt ist. 

Der Rechtsvorbehalt

Der Rechtsvorbehalt gehört ja zu den Sonderregelungen („opt-out“), die Dänemark 1992 auf dem EU-Gipfel in Edinburgh erreichte und der bei einer Volksabstimmung 2015 so nachdrücklich bestätigt wurde, dass zurzeit keine Lust auf eine Wiederholung besteht. So kann Dänemark  – wie beim Smørrebrød – selbst am europäischen Büfett entscheiden, was einem politisch schmeckt. 

Der neuen EU-Solidaritätsregelung will Dänemark nicht beitreten, verspricht aber den EU-Ländern an den bedrohten Außengrenzen praktische Hilfe. Auch finanziell werde Dänemark dadurch mehr leisten als bei einer Vollmitgliedschaft, sagt Dybvad, der auf der Neujahrstagung der CSU die stramme dänische Asylpolitik erläuterte und dafür in Bayern viel Beifall fand. Der Minister hätte sich aber ein noch besseres EU-Paket gewünscht, das Absprachen mit Ländern außerhalb der EU hätte enthalten sollen, die dann illegal eingereiste Flüchtlinge aufnehmen sollten. 

Rückzieher bei Verhandlungen mit Ruanda

Hier hat die dänische Regierung unter sozialdemokratischer Führung einen wunden Punkt: Sie hatte – so wie nun Großbritannien – auf ein Aufnahmelager in Ruanda gesetzt und bereits ein entsprechendes Abkommen mit dem afrikanischen Land unterzeichnet.

Proteste aus dem In- und Ausland haben jedoch dazu geführt, dass die Regierung offenbar diesen Plan im Alleingang aufgegeben hat und nun auf eine europäische Karte setzt. Regierungschefin Mette Frederiksen, die am Montag einen europäischen Migrationsgipfel mit afrikanischen und arabischen Vertretern in Kopenhagen eröffnete, glaubt jedenfalls, dass es auch in anderen europäischen Hauptstädten eine Kursänderung gibt, die ein europäisches Aufnahmelager außerhalb der EU in Zukunft nicht mehr strikt ablehnen. Und die Sozialdemokratie hat bereits signalisiert: Es muss ja nicht Ruanda sein!

Die stramme Ausländerpolitik inklusive Grenzkontrollen war einst bürgerliche Politik mit der Dänischen Volkspartei (Pia Kjærsgaard als treibende Kraft auch bei den Grenzkontrollen), aber nachdem die Sozialdemokraten unter Mette Frederiksen eine Kehrtwendung um 180 Grad in der Asylpolitik durchgeführt haben und damit im Juni 2019 die Folketingswahlen gewannen, sind es die früher international humanistisch gerühmten dänischen Sozialdemokraten, die sich 2024 von DF nicht einholen und schon gar nicht überholen lassen wollen. Allen voran die Staatsministerin, die in dieser Frage bisher in der EU isoliert war, die aber nun Morgenluft wittert für ihren dänischen Sonderweg.

Die Frage der Migration wird im EU-Wahlkampf eine Rolle spielen. Nicht nur, weil DF sich als Wachhund der Däninnen und Dänen gegen mehr Einwanderung profilieren will, die die Partei auch durch mehr und neue EU-Kompetenzen befürchtet. Für DF war es ja jedenfalls ein gefundenes Fressen, als die Spitzenkandidatin bei den Løkke-Moderaten, Stine Bosse, plötzlich eine europäische Flüchtlingsquote von jährlich 7.000 für Dänemark ins Gespräch brachte. Eine Äußerung, die sie 24 Stunden später prompt als Missverständnis dementierte und sich damit als politische Novizin entlarvte.

Die Migrations-Frage hat einen innenpolitischen Hintergrund, der durch die Entwicklung im Gaza-Konflikt und durch die Anti-Israel-Proteste der hier im Lande lebenden Palästinenser noch erhöhte Brisanz gefunden hat. Und ausgerechnet die Sozialdemokratie hat diese Problematik jetzt zusätzlich angeheizt durch ihren neuen ausländerpolitischen Sprecher Frederik Vad, der einen schwedischen Rapport zum Anlass nahm, im Folketing die Frage zu stellen, ob man sich in Dänemark überhaupt der Loyalität der im Lande wohnhaften muslimischen Bürgerinnen und Bürger sicher sein könne, selbst bei jenen, die inzwischen längst die dänische Staatsbürgerschaft besitzen. Vad nannte sogar Beamtinnen und Beamte sowie Apothekerinnen und Apotheker als Beispiele für eine gefährliche Unterwanderung der dänischen Gesellschaft. 

Achtung, Apotheker als Giftmischer? Geschmacklos fanden sogar viele Sozialdemokraten diese diskriminierenden Äußerungen und distanzierten sich öffentlich. Dennoch Alarm, denn weder Staatsministerin Mette Frederiksen noch Minister Dybvad sahen einen Grund zum Eingreifen.

Kommentatoren meinen, dass Frederiksen, die in Sachen Migration zuletzt etwa Albanien, Ägypten und Kroatien besucht hat und sich auch bei der rechten italienischen Ministerpräsidentin Meloni Unterstützung holte, mit dieser Politik für ihre angeschlagene Partei bei der EU-Wahl punkten will.

Ob die Menschen in Dänemark diese Kostproben genüsslich zu sich nehmen, wird der 9. Juni zeigen.

Vielleicht wird dieses Kochrezept für Mette Frederiksen sogar zum Eigentor, falls sie ernsthaft nach der Wahl mit einem hohen EU-Posten liebäugelt.

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