Angriff auf Ukraine

„Die schwarzen Schwäne werden immer mehr“

„Die schwarzen Schwäne werden immer mehr“

„Die schwarzen Schwäne werden immer mehr“

Apenrade/Berlin
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Ukrainische Panzer auf dem Weg nach Mariupol, um die Hafenstadt zu verteidigen, nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat Foto: Carlos Barria/Reuters

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„Wir sind in einer komplett neuen Wirklichkeit angekommen“, meint Jan Diedrichsen im Interview mit dem „Nordschleswiger“. Vor allem besorgt ihn, dass die Zahl an Ereignissen, mit denen die Menschheit nicht gerechnet hat, zuletzt immer weiter zunimmt. Von Dänemark fordert er, die Idee einer europäischen Verteidigungspolitik zu unterstützen.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Wie schätzt du die aktuelle Entwicklung ein?

Ich glaube, es ist generell schwierig abzuschätzen, was das jetzt hier alles bedeuten wird. Es hat eine Dramatik, die es einem schwer macht, Worte dafür zu finden. Ich denke, wir sind in einem neuen Europa aufgewacht, nachdem Putin heute einen Angriffskrieg begonnen hat, und es wird sich jetzt zeigen müssen, wie weit Putin geht. Wenn er die ganze Ukraine einnehmen will, dann steht Panzer gegen Panzer, Nato-Panzer gegen russische Panzer, dann gibt es keine Pufferzone mehr. Das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, was das an Reaktionen bedeutet. Wir sind eigentlich aus der Kalten-Krieg-Logik raus, und das bedeutet, dass bestimmte Mechanismen auch gar nicht mehr funktionieren.

Was bedeutet die aktuelle Entwicklung für Minderheiten in ganz Europa?

Die Situation für Minderheiten ist derzeit nicht viel anders als für alle. Nämlich dass wir in einer komplett neuen Wirklichkeit angekommen sind und noch keiner wirklich sagen kann, wo dieses hier endet. Und ich bewundere den Präsidenten der Ukraine, vor allem die Bevölkerung der Ukraine, mit welcher Ruhe sie weiterhin agieren. Vieles in diesem Land ist kaputt, aber es ist immer noch eine Demokratie, und die Menschen in diesem Land haben einen Freiheitsgrad, wie ihn die Menschen in Russland nicht haben. Wir sind mittlerweile in einer Situation, wo es unbedingt vermieden werden muss, dass es zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland kommt.

In deiner Kolumne „Der Kreml lenkt die Geschichte“ schreibst du, dass man sich keine Hoffnungen machen sollte, dass Putin zu rationalen Verhandlungen bereit sei. Wie ist dein Bild von ihm?

Dass Putin kein sympathischer Mensch und immer mit Vorsicht zu genießen ist, haben wir alle gewusst. Aber auch mit solchen Menschen muss man, wenn sie in solchen Machtpositionen sind, natürlich zusammenarbeiten. Putin ist völlig egal, was an Reaktionen von unserer Seite kommt. Die wirtschaftlichen Sanktionen, die jetzt kommen, werden ihn in keinster Weise beeinträchtigen. Er hat ein Endspiel eingeleitet, das in letzter Konsequenz ein Angriffskrieg ist. Laut Völkerrecht würde ihn das vor den Strafgerichtshof in Den Haag bringen.

Die Situation für Minderheiten ist derzeit nicht viel anders als für alle. Nämlich dass wir in einer komplett neuen Wirklichkeit angekommen sind und noch keiner wirklich sagen kann, wo dieses hier endet.

Jan Diedrichsen

Das Völkerrecht ist glasklar – der Mann hat ein souveränes Land überfallen, das ist ein Straftatbestand, der ihn vor Den Haag bringt. Es ist ja nicht so, dass sich Putin von heute auf morgen gewandelt hat, vom Friedensfürsten zum Teufel, sondern wir haben seit 2014 einen Krieg in der Ukraine. Davon will nur keiner etwas wissen. Seit 2014 sind 14.000 Menschen in diesem Krieg gestorben, aber das haben wir einfach mit eingepreist, um keinen größeren Krieg zu provozieren.

Du schreibst in deiner Kolumne „Der Kreml lebt in einer Parallelwelt“. Wie sind die historischen Zusammenhänge, auch in Bezug auf das Baltikum?

Putin hat vor einigen Monaten ein längeres Pamphlet verfasst, wie er die russische Geschichte sieht. Die Urkatastrophe für Russland war demzufolge der Untergang der Sowjetunion. Das war eine Demütigung für Russland, die Putin damals als KGB-Offizier in Dresden erlebt hat. Putin hat es als Demütigung empfunden, dass Russland seine Weltmachtstellung verloren hat und versucht nun, dies zu ändern. Dazu gehören aus seiner Sichtweise auch die baltischen Staaten, die seiner Auffassung nach ein Produkt der russischen Revolution sind und seinerzeit durch Lenin geschaffen wurden.

Das sollte man mal die baltischen Staaten fragen, ob sie das auch so sehen, aber das ist Putins Sichtweise. Er bricht damit mit all unseren Auffassungen der Geschichte, aber das ist für ihn die Realität. Gleichzeitig muss man auch sagen, dass er nicht viele Optionen hat. Er hat keine Wirtschaft, er hat keine Technologie. Das einzige Mittel, das er einsetzen kann, ist Gewalt. Er hat Rohstoffe, gut, aber da muss ich sagen, dann werden wir vielleicht mal ein paar Tage oder meinetwegen auch einen Monat lang frieren müssen, das ist dann halt so. Und dann müssen wir vielleicht auch mal 10 Prozent Inflationsrate einpreisen für sechs oder zwölf Monate, aber ich denke, das wird uns auch nicht umbringen. Aber jetzt geht es darum, dass wirklich ganz klipp und klar leider auch die russische Bevölkerung spüren muss, dass das nicht geht.

Wie können wir den Anspruch Putins auf die Ukraine einordnen aus der Perspektive der nationalen und historischen Zugehörigkeit?

Das ist nicht einfach abzugrenzen, weil bei den Begriffen Nation, Staat, Volk, Volksgruppe, Minderheit ganz vieles ineinanderfließt. Es ist auch nicht einfach, den Begriff des „Staates“ so zu begrenzen. Warum ist etwas ein Staat, warum ist etwas kein Staat. Das sind vor allem historisch-politische Beweggründe, aber die Geschichte vor allem von Mittel-Osteuropa über die Nationalitäten dort ist so komplex; und dieser Gedanke von Staatlichkeit, von Nationalstaaten ist ja ein ganz junger Gedanke. Und da vermischen sich schnell Argumentationen.

Als 2014 der Angriff auf die Krim erfolgte, waren nur 20 oder 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung überzeugt davon, dass sich die Ukraine der Nato anschließen müsse. Jetzt steht das Land zusammen. Und ich höre häufig die Frage, ja aber was ist mit den Russen, da sind doch so viele Russischsprachige, aber es ist ein Riesendenkfehler zu sagen, dass jeder, der dort Russisch spricht, der russischen Minderheit angehört. Das ist die Denke bei uns im Grenzland – wenn man irgendwie etwas mit der anderen Sprache zu tun hat, gehört man zum anderen Lager. Die Ukraine ist ein mehrsprachiges Land, und es gehört genauso normal dazu, dass man Russisch sprechen kann und sich nicht zum Lager von Putin zählt. Da müssen wir aufpassen mit unserer Sichtweise, dass alles auf die einfache Minderheitenkarte gespielt wird. Das ist sehr komplex.

Er hat nicht viele Optionen. Er hat keine Wirtschaft, er hat keine Technologie. Das einzige Mittel, das er einsetzen kann, ist Gewalt.

Jan Diedrichsen

Aber wenn Putin eines geschafft hat, dann ist es, diesen Staat jetzt zusammenzubringen. Und was er auch geschafft hat, das ist meine Hoffnung in diesen dunklen Stunden, er hat Europa zusammengebracht. Jetzt werden alle sehen, dass es nur gemeinsam geht.

Und noch eine Anmerkung an den dänischen Kontext. Wenn man sich die Reaktionen der dänischen Regierung in den vergangenen Wochen anschaut, diese sehr enge Anbindung an die USA, dass man auch Truppen aufnehmen würde, das ist ja durchaus nachvollziehbar. Lass uns doch einfach mal das Gedankenspiel machen, wir hätten Donald Trump an der Macht, dann würde Europa jetzt aufgeteilt werden. Trump hat ja vor zwei Tagen auf seinem neuen Medium „Truth Social“ geschrieben, Putins Vorgehen sei genial. Dann kann man sich vorstellen, was er gemacht hätte, wenn er Präsident gewesen wäre, wobei es da natürlich noch andere Machtstrukturen gibt in den USA. Ich glaube, da hätte das Militär wahrscheinlich irgendwann mal interveniert, aber man weiß es nicht. Und wenn man das weiterdenkt, wer könnte dann noch etwas machen? Dann bleiben nur Frankreich und Großbritannien, weil das die einzigen Länder sind, die Atomwaffen haben. Und dann sind wir nämlich genau dort angekommen, dass wir in der Logik von Atomwaffen denken.

Also, es sind unvorstellbare Diskussionen, die wir führen. Vor ein paar Wochen noch hätten uns die Leute für verrückt erklärt. Aber das ist die Logik, in der wir sind. Und das heißt, Europa ist dazu verdammt, wenn man so will, sich jetzt selbst zu organisieren und den Schulterschluss zu finden.

Du schreibst „Wir leben in einer anderen Welt“ nach Putins Angriff. Wie sieht diese Welt aus?

Ich weiß es nicht. Das kommt ganz darauf an, wie sich die nächsten Stunden, Tage, Wochen entwickeln werden. Aber es wird eine neue Sicherheitsarchitektur geben müssen. Die große Frage ist, will Putin wirklich die gesamte Ukraine einnehmen, also bis an die Grenzen von Polen, die baltischen Staaten und Rumänien gehen? Eines ist jedoch klar: Es wird keine Unterstützung der Ukraine aus der Nato geben in den Kampfhandlungen, die sich jetzt abspielen. Aber Kamala Harris (US-Vizepräsidentin, Anm. d. Red.) hat es in München bei der Sicherheitskonferenz gesagt, und Biden danach, wenn er auch nur einen Millimeter auf Nato-Gebiet geht, dann haben wir Krieg. Und jetzt haben wir einen Verrückten im Kreml sitzen, den alle falsch eingeschätzt haben. Sie sind alle hingefahren, von Macron bis Schulz, und er hat sie nach Strich und Faden belogen.

Dänemark hat mit den USA die Stationierung von US-Truppen vereinbart. Was müsste Dänemark tun, um mehr Flagge zu zeigen?

Das, was ich mit Frankreich und Großbritannien meinte, war, dass sie die einzigen Länder sind, die das atomare Abschreckungspotenzial haben. Die ganze Logik des Kalten Krieges war ja darauf aufgebaut, dass sich keiner die Blöße geben wollte, denn dann wäre Schluss gewesen. Aber mit einem Wackelkandidaten USA, der sich jetzt zwar ein bisschen gefangen hat – aber wer sich die US-Innenpolitik anschaut, dem kann auch angst und bange werden –, ist ja die Frage, wie gehen wir vor, was machen wir, um uns zu stabilisieren?

Das, was mich so beängstigt, ist, dass diese schwarzen Schwäne immer mehr werden. Wir haben die Corona-Pandemie, wir haben dieses Eskalieren Russlands, wir haben China. Wir sind in einer Auseinandersetzung zwischen Demokratie und den autoritären Staaten.

Jan Diedrichsen

Ich habe noch vor ein paar Wochen nicht daran gedacht, dass ich anfangen würde, in militärischen Logiken zu argumentieren, aber was sollen wir machen? Und wenn Deutschland nicht in der Lage ist, von einem Tag auf den anderen 5.000 Helme zu liefern, sondern dafür zwei Wochen braucht, das wird nicht funktionieren. Ich denke, wir sind uns alle im Klaren darüber, dass sich Putin von Friedensgesprächen in den nächsten Wochen nicht beeindrucken lassen wird.

Was kann Dänemark deiner Meinung nach jetzt tun?

Dänemark kann nichts anderes tun, als in der Nato zu bleiben, sich abzustimmen und vielleicht auch anzufangen, die europäische Verteidigungszusammenarbeit ernst zu nehmen. Jens Rohde von Venstre hatte mal im Europaparlament vorgeschlagen, dass man die Idee einer europäischen Verteidigungspolitik auch von dänischer Seite unterstützen sollte. Das war sein Karriereende bei Venstre. Dass sich Europa, so schwer es fällt, auch um die eigene Sicherheit Gedanken machen muss, ist allerdings jetzt klar.

Wie wird es jetzt weitergehen?

Das, was derzeit passiert, ist das, was Nassim Nicholas Taleb meint, wenn er von den „Schwarzen Schwänen“ schreibt. Sie stehen als Symbol für das, womit wir nicht rechnen. Und jetzt passiert gerade etwas, das die Weltgeschichte komplett ändert. Wie damals der Fall der Mauer oder „9/11“, niemand hat damit vorher gerechnet, aber das ändert dann sozusagen die Weltgeschichte, und in so einem Moment sind wir. Und das, was mich so beängstigt, ist, dass diese schwarzen Schwäne immer mehr werden. Wir haben die Corona-Pandemie, wir haben dieses Eskalieren Russlands, wir haben China, die heute Morgen gesagt haben, dass das keine Invasion sei. Die haben ja ihre absolut begründeten Interessen. Wir sind in einer Auseinandersetzung zwischen Demokratie und den autoritären Staaten und treten nicht einmal in Europa geschlossen mit einer Meinung auf.

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