Leitartikel

„Die falsche Melodie“

Die falsche Melodie

Die falsche Melodie

Kopenhagen
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Die Beweisaufnahme im Reichsgerichtsverfahren gegen Ex-Ministerin Inger Støjberg ist abgeschlossen. Für sie gilt, wie für alle, weiterhin die Unschuldsvermutung. Doch ungeachtet des Urteils der Richterinnen und Richter steht bereits fest, dass Støjberg versucht, uns ein Trugbild vorzuspiegeln, meint Walter Turnowsky.

Die Überschrift dieses Leitartikels ist nicht zufällig gewählt. Denn bei dem letzten Reichsgerichtsprozess vor dem jetzigen spielte der Begriff der falschen Melodie eine zentrale Rolle.

Der damalige Justizminister Erik Ninn-Hansen wurde 1995 verurteilt, weil er tamilischen Flüchtlingen das Recht auf Familiennachzug verweigert hatte. Die falsche Melodie war damals, die Fälle seien aus Ressourcenmangel nicht bearbeitet worden. In Wahrheit hatte Ninn-Hansen die Bearbeitung gestoppt.

Die falsche Melodie, die Inger Støjberg uns vorspielen möchte, ist, es sei ihr nur darum gegangen, „Kinderbräuten“ zu helfen.

Wie diese „Hilfe“ in der Realität aussieht, haben zunächst der Bericht des Untersuchungsausschusses und nun auch schriftliche Aussagen, die dem Reichsgericht vorgelegt wurden, dokumentiert.

Da war zum Beispiel das 17-jährige Mädchen, verheiratet mit einem 18-jährigen Mann.

„Ich will nicht, nicht, nicht von ihm weg, und ich möchte nicht ohne ihn irgendwo hin. Ich überlege, der Schule fernzubleiben und in den Hungerstreik zu treten. Ich könnte mir selbst Schaden zufügen“, schrieb sie damals in einer Klage.

In einem anderen Fall war der Altersunterschied größer. Sie war 17 und schwanger, er 26. Sie weigerten sich, sich von einem Bus abtransportieren zu lassen und drohten ebenfalls mit Hungerstreiks. Der Ombudsmann hat diesem Paar in seiner Klage seither recht gegeben, das Gericht erkannte ihnen eine Entschädigung von 20.000 Kronen zu.

In einem weiteren Fall war ein junges Paar vor einer drohenden Zwangsehe nach Dänemark geflohen.

Gewiss, es gab auch die anderen Fälle, die, bei denen der Verdacht einer Zwangsehe zumindest naheliegend ist.

Aber eben darum wäre die Einzelfallprüfung so wichtig gewesen. Sie ist nämlich nicht irgendeine juristische Spitzfindigkeit, sondern der Garant, dass man nicht Menschen Schaden zufügt, indem man ihnen ihre Rechte entzieht.

Es liegt nun am Gericht, zu entscheiden, ob die ehemalige Integrations- und Ausländerministerin eine ausnahmslose Praxis direkt angeordnet oder ob sie Ausnahmen zugelassen hat. Die Beamtinnen und Beamten der nachgeordneten Behörden haben alle ausgesagt, sie hätten Ersteres als die Order aufgefasst.

Støjberg selbst hat ausgesagt, sie habe Ausnahmen zwar zugelassen, sie jedoch weitgehend als hypothetisch angesehen. Daher seien sie in der Pressemitteilung, die sie versendet hat, unerwähnt geblieben.

Doch wie die Beispiele zeigen, sind Einzelfälle immer auch Schicksale.

Wäre tatsächlich die Sorge um die Mädchen die Treibkraft Støjbergs gewesen, hätte sie daher auf den Einzelfallprüfungen geradezu bestehen müssen. Alles andere ist eine falsche Melodie.

Das Reichgericht wird im Dezember sein Urteil fällen. 

Mehr lesen

Leitartikel

Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
„Orbáns Schatten reicht bis zu uns ins Grenzland“

Kulturkommentar

Claudia Knauer
Claudia Knauer
„Von Steppjacken bis Neopren – dänische Sommerkleidung“