Leitartikel

„Geteiltes Leid“

„Geteiltes Leid“

„Geteiltes Leid“

Apenrade/Aabenraa
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Bis das Internet redaktionellen Einschränkungen unterliegt, werden noch viele unzensierte Bilder über unsere Bildschirme flimmern – wenn wir sie denn sehen wollen, meint Sara Wasmund.

Die Hinrichtung von Menschen ist an sich abstoßend genug. Noch schlimmer wird eine solche Tat dadurch, dass die Abschlachtung von Menschen gefilmt und über private Nachrichtenkanäle geteilt und im Internet gezeigt wird. Wieder und wieder und wieder. Mord ohne Ende. In Esbjerg ist in dieser Woche ein Schüler angezeigt worden, weil er ein Video von der Ermordung einer Studentin in Marokko an seine Schulkameraden geteilt hat. Und in Christchurch hat sich ein rechtsextremer Terrorist gestern dabei gefilmt, wie er in eine Moschee geht und dort mit einer Pumpgun Menschen niederschießt. Die Tat streamte er live über Facebook.

Als Mediennutzer steht man fassungslos da. Fassungslosigkeit auch über jene Medienmacher, die das Video in Teilen auf ihre Internetseite setzen, wo dem Seitenbesucher automatisch die Sicht des Attentäters abgespielt wird, während er, die Waffe im Anschlag haltend, auf das Gebetshaus zuläuft.

Beide Beispiele werfen erneut die Frage nach der Verantwortlichkeit der Medien auf. Doch während man bei Medienhäusern den Chefredakteur persönlich für Geschmack- und Skrupellosigkeit angehen kann, gibt es im World Wide Web weder einen Schlussredakteur noch einen Herausgeber, der die Richtlinien der moralischen Grundfesten festlegt und kontrolliert. Dass die Polizei mit dem Esbjerger Schüler an die Öffentlichkeit geht, ist daher zu begrüßen. Sorgt der Fall doch für Gesprächsstoff, ob an Schulen oder in Freundeskreisen. Nicht alles, was möglich ist, ist erlaubt – diese simple Erkenntnis scheint bei der Nutzung des Internets erst langsam in die Köpfe der Nutzer vorzudringen.

Ja, es ist verboten, Videos oder Bilder mit Toten zu teilen. Die simple Regel „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem ander(e)n zu“ scheint im Internet durch die Anonymität außer Gefecht gesetzt.

Die Boulevard-Medien wagen sich in ihrem Flirt mit dem schrankenlosen Internet weit hinaus – springen ihnen sonst doch die Nutzer ab, hinein in Plattformen wie Youtube, wo keine Chefredakteure Inhalte bewerten und gegebenenfalls nicht zeigen (vom Darknet drei Klicks weiter ganz zu schweigen).

So zeigten beispielsweise die Internetportale von Bild und Daily Mail kurz nach dem Massaker von Christchurch jene Filmaufnahmen, die einer der Täter von sich selbst gemacht hat. Wie er in sein mit Waffen beladenes Auto steigt und zur Moschee fährt. Wie er darauf zugeht. Wie er kurze Zeit später hinausläuft, um eine neue Waffe aus dem Wagen zu holen, wie er aus dem Fenster des Autos auf Flüchtende schießt. Und ich sitze hier mit einem Kaffee in der Hand und schaue angewidert zu. Und sorge gleichzeitig dafür, dass die Medienmacher einen Zuschauer mehr in ihren Klickzahlen verbuchen können.

Bis das Internet redaktionellen Einschränkungen unterliegt, werden noch viele unzensierte Bilder über unsere Bildschirme flimmern – wenn wir sie denn sehen wollen. Bis dahin kann sich jeder Mediennutzer persönlich die Frage stellen, warum man sich Bilder und Videos von der Tötung anderer Menschen anschauen möchte oder sie gar teilen sollte. Die Würde des Menschen ist schon lange nicht mehr unantastbar – sogar über den Tod hinaus wird sie in den Dreck gezogen und auf dem Altar des Voyeurismus geopfert. Es ist längst überfällig, dass sich jeder persönlich, aber auch Medien, Schulen und die Gesellschaft darüber im Klaren ist, dass der kurze Kick mit dem Klick nicht über den Anstand triumphieren darf.

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