Leitartikel

„Kabale Mette Frederiksen“

Kabale Mette Frederiksen

Kabale Mette Frederiksen

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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In diesen Tagen spielt Staatsministerin Mette Frederiksen auf Marienborg Kabale. Sie muss eine Entscheidung treffen, wer Dänemark in den nächsten fünf Jahren in der Brüsseler EU-Kommission vertritt, aber welche Konsequenzen hat ihre Entscheidung mittel- und langfristig für die bisher so Volk ungeliebte Regierung der Mitte. Ex-Chefredakteur Siegfried Matlok legt in seiner Analyse einige Karten auf den Tisch.

Während in Paris der Kampf der olympischen Giganten um die Medaillen begonnen hat, steht Staatsministerin Mette Frederiksen davor, selbst eine große Medaille zu verteilen – finanziell allemal wertvoll wie eine Goldmedaille. Es geht um den politisch wichtigen Posten in der EU-Kommission, der lukrativer ist als der, der dänischen Regierungschefin.  

Nachdem der Traum auch mancher Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zerplatzt war, Mette Frederiksen mit einer zentralen Führungsrolle in der neuen EU-Kommission „abzusetzen“, wird ihre baldige Entscheidung über die neue Kommissarin oder den neuen Kommissar für die nächsten fünf Jahre mit großer Spannung erwartet – und nicht nur unter den Genossinnen und Genossen.

Theoretisch könnte sie sich zwar selbst ernennen, sich jedoch vorzustellen, dass sie sich etwa mit einem zweitrangigen Aufgabenbereich begnügen könnte, übersteigt selbst die oft grenzenlose Fantasie mancher dänischer Kommentatorinnen und Kommentatoren, die noch vor Monaten ihren rot-weißen Probeballon über den Himmel von Brüssel emporsteigen ließen, der dann allerdings still und leise abgestürzt ist.

Um die Bedeutung einer solchen Spitzen-Position richtig einzuordnen, ist ein Rückblick auf die bisherigen acht EU-Kommissarinnen und -Kommissare zu empfehlen, die Dänemark seit dem Beitritt am 1. Januar 1973 in die Brüsseler Zentrale entsendet hat. Mit einer wichtigen Ausnahme waren alle Politikerinnen und Politiker. 

Erster Kommissar wurde nämlich der Karriere-Diplomat Finn Olav Gundelach, den die sozialdemokratische Regierung berief, nachdem er zuvor als Botschafter unter der Leitung von Staatsminister Jens Otto Krag maßgeblich an den langjährigen dänischen Beitrittsverhandlungen beteiligt gewesen war. Gundelach bekam 1977 sogar eine zweite Amtsperiode, nun als Kommissar für Landwirtschaft und Fischerei, und die britische Zeitung „The Economist“ bezeichnete ihn damals als „Superstar und einen der klügsten Köpfe im Berlaymont-Gebäude“. Mitten in seiner hoch anerkannten Tätigkeit verstarb Gundelach 1981 in Strassburg, nur 56 Jahre alt.

Von den sieben Politikerinnen und Politikern kamen drei aus der Sozialdemokratie, zwei von Venstre sowie jeweils eine Vertreterin von den Konservativen und von Radikale Venstre. Sicherlich sind die Namen der acht heute nicht mehr vielen bekannt, aber es gab unter ihnen durchaus Größen, die sich auch in Brüssel auf europäischer Ebene einen beachtlichen Namen gemacht haben: allen voran der ehemalige Venstre-Vorsitzende Henning Christophersen, sogar als Stellvertreter des französischen Kommissions-Vorsitzenden Delors auch mit der Zuständigkeit für Wirtschaft und Finanzen, die Sozialdemokratin Ritt Bjerregaard, die Konservative Klima-Kommissarin Connie Hedegaard und zuletzt die ehemalige Chefin von Radikale Venstre, Margrethe Vestager, die – ungewöhnlich genug – von der sozialdemokratischen Staatsministerin Helle Thorning ernannt wurde. 

Vestager war als Wettbewerbs-Kommissarin vorübergehend  „everybody´s darling“, sorgte für große Schlagzeilen, als sie die globalen Tech-Giganten mit Milliarden-Strafen belegte, jedoch später vor Gericht meistens unterlag. Ihre enge Zusammenarbeit mit der deutschen Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen sicherte der Sozialliberalen Vestager großen Einfluss, doch als sie – politisch erstaunlich naiv – öffentlich den Wunsch äußerte, ihre Amtszeit um weitere fünf Jahre verlängert zu bekommen, da stieß sie auf ein striktes Veto bei Außenminister Lars Løkke Rasmussen (Moderate), dem selbst vorübergehend Brüsseler Ambitionen nachgesagt wurden. 

Nun standen nicht Qualifikationen im Vordergrund, sondern parteitaktische Motive, denn natürlich ist Europa-Politik in hohem Masse Innenpolitik. Grob gesagt: Es sind nicht immer die Besten, die nach Brüssel gehen, sondern meistens jene, die auch ins innenpolitische Kalkül passen. In Zeiten reiner Minderheiten-Regierungen war es natürlich einfacher, eine geeignete Kandidatin oder Kandidaten aus der eigenen Partei zu berufen, doch inzwischen hat sich auch die dänische Politik entscheidend verändert, nun mit einer Mehrheits-Regierung seit der jüngsten Folketingswahl. Mit anderen Worten: formell entscheidet die Staatsministerin, doch sie muss jetzt Rücksicht auf ihre Koalitionspartner nehmen, obwohl sie als größte Regierungspartei das Aufschlagsrecht besitzt. 

Innerhalb der Regierung der Mitte zählen dabei aber nicht nur die Mandate der Folketingswahl, sondern zu berücksichtigen ist auch das „europäische Gleichgewicht“ innerhalb der Regierung, die sich bei der kürzlichen EU-Parlamentswahl ziemlich verschoben hat. Die Sozialdemokratie erlitten eine historisch schmachvolle Niederlage, während Venstre aus dieser Wahl überraschend gestärkt – im Vergleich zu den Umfragen zur Folketing – hervorging. 

Das bedeutet zwar keine eigenen Ansprüche, aber ein deutlicheres Mitspracherecht gegenüber der Chefin, die jetzt bei ihrer Entscheidung unter Druck steht. Nachdem allen klar geworden ist, dass Mette Frederiksen weiterhin das Ruder im Lande steuert, muss sie gegenüber den eigenen Genossinnen und Genossen liefern. 

Selbst hat sie dazu jüngst erklärt, sie habe inzwischen die Unzufriedenheit mit ihrer Politik so verstanden, dass sich ihre Partei und Wählerschaft die „alte Mette“ zurückwünschen. Was auch immer das bedeutet mag: Wenn sie diesen Wunsch erfüllen will, dann besteht mit der Entscheidung für Brüssel für sie aktuell die Chance, die sozialdemokratischen Konturen wieder zu schärfen. Minister Dan Jørgensen, selbst langjähriger Abgeordneter im EU-Parlament, wird allgemein favorisiert. Er repräsentiert eher eine linke Linie, die viele Wähler inzwischen bei Mette Frederiksen vermissen. 

Der 49-jährige Dan Jørgensen ist seit dem 15. Dezember 2022 Minister für Entwicklungszusammenarbeit und globale Klimapolitik, lebt aber bisher medial im Schatten von Außenminister Løkke Rasmussen. Voraussetzung dafür, dass sich Mette Frederiksen für ihn entscheiden wird (und kann) ist jedoch die Frage, welchen Posten Ursula von der Leyen bei der Kabale ohne Liebe für Dänemark vorgesehen hat.  Wenn es – wie einst bei Connie Hedegaard – um Klima geht, dann wäre Dan Jørgensen als Experte auch innerparteilich ein Gewinn, wobei allerdings zu berücksichtigen gilt, dass Ursula von der Leyen ihren „Green Deal“ auch wegen Widerstände aus Deutschland (Stichworte Verbrenner-Auto und Landwirtschaft) nicht mehr so tatkräftig umsetzen kann wie in ihrer ersten Periode. Offen ist ja auch, ob von der Leyen eventuell wegen der Frauen-Quote in der Kommission eher eine dänische Politikerin befürwortet.

Ob Frau oder Mann: wer nach Brüssel geht, vertritt zwar den Nationalstaat Dänemark in der Kommission, aber Kommissare haben direkt keine Möglichkeiten, nationale Interessen wahrzunehmen; sie müssen immer europäisch denken und handeln. Aber wie man aus früheren Zeiten weiß: Wenn eine dänische Kommissarin oder ein dänischer Kommissar der Regierung und dem Folketing in Kopenhagen sein Ohr leiht, dann ist es auf jeden Fall kein Nachteil für Dänemark, wenn die richtige Frau oder der richtige Mann in Brüssel Wurzeln schlägt. 

Mette Frederiksens Entscheidung hat personelle Folgen, kann aber auch erhebliche innenpolitische Konsequenzen hervorrufen, mittel- und langfristig. Wenn die Staatsministerin – was zu vermuten ist – eine Person aus ihrer eigenen Regierungspartei wählt, dann muss sie ja diesen Posten neu besetzen. Hier stellt sich natürlich die interessante Frage, ob sie dann eventuell zu einer größeren Regierungsumbildung bereit wäre, wenn ihre Koalitionspartner von den Moderaten und von Venstre in diesem Zusammenhang auf eine Rochade drängen.  

Zweifelsohne gibt es in allen drei Parteien schwache Ministerinnen und Minister, und jetzt bietet sich also die Möglichkeit zu einer „Wiederauferstehung“ der in Meinungsumfragen arg gebeutelten Regierung. Vor allem Venstre mit dem Parteivorsitzenden Troels Lund Poulsen als Verteidigungsminister könnte daran ein Interesse haben, aber hat Mette Frederiksen das gleiche Interesse? Ja, wenn sie langfristig an ihr Projekt der Mitte-Regierung glaubt, aber die „alte Mette“ würde sich auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen eher links eingestellten Basis gewiss anders, neu orientieren.

Mit anderen Worten: Eine große Kabinettsumbildung wäre ein Signal – so oder so, und in diese Überlegungen spielt auch die mögliche Ernennung einer Europaministerin oder -ministers eine Rolle. 2011 hatte die Sozialdemokratin Helle Thorning Nicolai Wammen zum Europaminister befördert, doch schon lange vorher – 2002 – hatte Venstre ihre politische Allzweckwaffe Bertel Haarder als Europaminister ernannt mit der wichtigen Funktion, die dänische Ratspräsidentschaft in der EU zu unterstützen, die mit der historischen Aufnahme der osteuropäischen Länder 2004 unter Anders Fogh in Kopenhagen endete. Vieles spricht angesichts der Herausforderungen von heute, die wegen des Krieges in der Ukraine mit 2002 gar nicht vergleichbar sind, für einen Europaminister, doch wird sich der außenpolitisch alles überragende Lars Løkke so einfach die Butter vom Brot nehmen lassen?

Die Kabale ist eröffnet: mit offenem Ausgang – auch für Mette Frederiksen!

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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