Leitartikel

„Unsere Grenze(n) “

Unsere Grenze(n)

Unsere Grenze(n)

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Abzuwägen zwischen medizinischer Einsicht und der Notwendigkeit, sich auch öffentlich auf eine möglichst rasche „Wiederauferstehung“ vorzubereiten, ist für die Regierung der gefährlichste Balanceakt, findet Siegfried Matlok, ehemaliger Chefredakteur des „Nordschleswigers“.

Während die Zahl der Infizierten und leider auch der Toten hier im Lande weiter ansteigt – von anderen europäischen Zahlen ganz zu schweigen –, haben sich nun auch in Dänemark gewichtige Stimmen zu Wort gemeldet, die von der Regierung eine Exit-Strategie verlangen. Das gilt für alle Parteien des blauen Blocks, inklusive Radikale Venstre, sodass die sozialdemokratische Regierung nach den von  hundertprozentigem Konsensus geprägten Tagen nun einer parlamentarischen Mehrheit gegenübersteht, die zwar nicht den bisherigen gesundheitspolitischen Kurs verlässt, die aber gleichzeitig die Regierung zu größerem ökonomischen Nachdenken zwingt.

Finanzminister Nicolai Wammen hat die Umsetzung der sogenannten „hammer and dance“-Theorie nach Ostern zwar ausgeschlossen, weil so ein Beschluss von heute auf morgen gar nicht möglich ist. Er ist nicht der Letzte im Lande, der nicht weiß, dass die volkswirtschaftliche Rechnung mit jedem Tag  teurer wird. Abzuwägen zwischen medizinischer Einsicht und der Notwendigkeit, sich auch öffentlich auf eine möglichst rasche  „Wiederauferstehung“ vorzubereiten, ist für die Regierung der gefährlichste Balanceakt.  Schließlich ist die Regierung Mette Frederiksen – auch wenn in diesen Tagen sogar „Ermächtigungsgesetze“ ohne Widerspruch im Folketing passieren –  unverändert eine Minderheits-Regierung. Daran sollte sie auch stets erinnert werden.

Die unheimlichen Zahlen hinter dem Sicherheitsnetz und deren Konsequenzen sind jedoch nicht erst zu diskutieren, wenn die erste Virus-Welle hoffentlich bald überstanden ist. Niemand – auch nicht jene, die nun Exit rufen – will bewusst Menschenleben in Kauf nehmen, aber die Folgen dieser Anti-Virus-Bekämpfung betreffen auf der anderen Seite auch die Zukunft vieler, vieler Menschen. Die dänische Ökonomie ist erfreulich robust: Die Staatsschulden belaufen sich nur auf 420 Milliarden Kronen bzw. ca. 18 Prozent des Bruttonationalprodukts. Happy Dänemark, aber wenn man zugrunde legt, dass die Rettungspakete insgesamt wohl 300 Milliarden Kronen ausmachen dürften und dass das BNP in diesem Jahr etwa 7 Prozent einbüßen wird – bei der Finanzkrise 2008 waren es „nur“ 4,9 Prozent –, dann kann man sich an fünf Fingern ausrechnen, was die schwerste Krise seit 100 Jahren uns abverlangen wird; mental!  

Ein Rechenbeispiel: Um die 300 Milliarden z. B. über fünf Jahre abzubauen, wären massive Steuererhöhungen ebenso erforderlich wie drastische Einsparungen auf der Ausgabenseite, etwa bei der Volkspension oder bei den Transferleistungen.  Und das sind nur dänische Zahlen, denn jeder weiß, dass der dänische Wohlstand in einer offenen globalen Ökonomie in erster Linie vom Export abhängt, und die Reaktion der internationalen Märkte ist fast ebenso schwer vorhersehbar wie Covid19.

Nordschleswig ist nicht der Nabel der Welt – obwohl  manche es  vielleicht glauben mögen. Wenn man weiß, dass die Exportquote in Nordschleswig sogar noch höher ist als im Landesdurchschnitt, dann drohen auch hier tiefe Einschnitte in unser (Wirtschafts-)Leben. Dass ausgerechnet im historischen Jahr der Grenzziehung von 1920 zurzeit die Grenze auf beiden Seiten (fast) geschlossen ist, hat nichts damit zu tun, dass die heutige Situation in irgendeiner Weise mit 1920 vergleichbar ist, aber sie zeigt, dass eben auch das Grenzland und seine Entwicklung längst von mächtigeren Kräften bestimmt wird als von alten nationalen Gegensätzen.

Oft genug ist in den vergangenen Jahren an den Grenzkontrollen auf dänischer Seite, nicht zuletzt am  Wildschweinzaun,  Kritik geübt worden, aber in der jetzigen Situation sollten wir dennoch froh sein, dass die Grenze nicht  nur für Lkw und für Lebensmitteltransporte  geöffnet ist, sondern dass auch den Grenzpendlern das Leben nicht noch unnötig erschwert wird. 2019 pendelten  rund 12.000  Menschen von Deutschland nach Dänemark, Arbeitskräfte, ohne die manche dänische Betriebe, aber auch viele kommunale Institutionen gar nicht mehr voll funktionsfähig wären.

Sie halten Teile unserer Gesellschaft mitten in der Krise am Leben. Ihnen gebührt in diesen Zeiten ein Dank, aber einen Dank verdienen auch die Polizei-Behörden auf beiden Seiten, die in enger Zusammenarbeit unsere Grenze insgesamt viel offener halten, als es an anderen europäischen Grenzen der Fall ist. Das gilt auch in humanitären Anliegen, die in einem zusammenwachsenden Grenzgebiet besonderes Fingerspitzengefühl erfordern. Wir kritisieren gern, meistens wohl auch zu Recht, aber gerade in diesen Tagen spürt man auf beiden Seiten, wie das Vertrauen über Jahrzehnte gewachsen ist und damit die Erkenntnis, diese so schwierige Zeit gemeinsam zu meistern; pragmatisch!  

 

 

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