Leitartikel

„Wundertüte Løkke “

Wundertüte Løkke

Wundertüte Løkke

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Bei Wundertüten weiß man nicht, was an Überraschungen drinsteckt – auch an unangenehmen. Was bringt die Wundertüte Løkke? Der frühere Chefredakteur Siegfried Matlok, der Løkke seit Jahrzehnten kennt und aus nächster Nähe beobachtet hat, bewertet dessen Comeback bei der Folketingswahl, die mit einer Überraschung enden kann. Angenehm oder unangenehm?

Im Boxsport gibt es die Regel ”They never come back”, will heissen, wer seinen Titel verloren hat, holt ihn nicht mehr zurück. Der Venstre-Politiker Lars Løkke Rasmussen durchbrach dieses ungeschriebene Gesetz, als er, der 2011 als Staatsminister den Posten an die Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt abtreten musste, 2015 wieder ins Staatsministerium zurückkehrte. Nach der Wahl 2019 musste er den Schlüssel im Staatsministerium an die Sozialdemokratin Mette Frederiksen übergeben, und dabei fielen Worte, die jetzt bei der Folketingswahl 2022 wieder in frische Erinnerung zu rufen sind: „Der Schlüssel ist nur ausgeliehen“, sagte er damals süffisant und schelmisch zugleich. Gerade jetzt wird darüber diskutiert, ob Wundertüte Løkke rekordverdächtig ein drittes Mal den Sprung an die Spitze des Landes schaffen kann.

Das Boxer-Bild ist symbolisch für diesen Mann, der wie ein listiger Fuchs die sieben Notausgänge auf Christiansborg kennt und der oft schwer angeschlagen – ja am Boden liegend – bei „9“ wieder auf die Beine gekommen ist und am Ende stets erfolgreich war. Wie oft hatten ihn die politischen Experten schon an- und ausgezählt, aber immer wieder haben die meisten jedoch sein Ego, seine Willenskraft unterschätzt. In seinen Erinnerungen beschreibt er manche seiner zahlreichen Krisen und berichtet, dass er angeblich auf einem Parkplatz auf Seeland von einem Unbekannten angesprochen wurde, der ihn zur Fortsetzung seines Kampfes aufforderte, obwohl er nach eigenen Worten selbst schon das Handtuch werfen wollte.

Løkke ist – das bescheinigen ihm selbst seine Gegner – vielleicht der Politiker mit den höchsten politischen Fähigkeiten, rhetorisch begabt und durchaus, wie es die Dänen mögen, jovial-humorvoll. Aber die Art und Weise, wie selbst seine Kritiker ihm sein langes Sündenregister erlassen, ohne eine Beichte von ihm zu erwarten, muss schon verwundern, denn – wie es im Dänischen heißt – Løkke hat viele Skelette im eigenen Schrank. Seine moralisch-ethischen Qualifikationen sind jedenfalls mit seinen politischen nicht vergleichbar, im Gegenteil, so manche Affäre lässt erhebliche Zweifel an seiner persönlichen Integrität aufkommen, die auch durch politische Erfolge nicht zu überdecken sind.

Während das Land den konservativen Staatsminister-Kandidaten Søren Pape durch den medialen Reißwolf gezogen hat – zugegeben vor dem Hintergrund eigener Fehler – werden Fragen zur oft skandalösen Vergangenheit von Løkke bisher – bisher – gar nicht diskutiert; von der peinlichen Unterhosen-Geschichte mal ganz zu schweigen. Und dies just in einer Zeit, da stets die innere und äußere Glaubwürdigkeit von Politikern als Maßstab für die Wählbarkeit gilt. Dass Løkke sogar seine Venstre-Partei, der er doch alles zu verdanken hatte, mit seinem Austritt verraten hat, um das Projekt Løkke mit den Moderaten zu starten, hat bei seinen ehemaligen Freunden tiefe menschliche Wunden gerissen. Und doch: sie könnten vielleicht aus taktischen Gründen nach der Wahl sogar in eine Situation geraten, in der sie ihren alten Chef wieder als neuen Chef ins Staatsministerium befördern: völlig unrealistisch nein, unglaublich ja!

Der inzwischen 58-jährige Løkke steht in diesen Tagen im Zentrum des Wahlkampfes, weil die Meinungsforscher davon ausgehen, dass die Løkke-Partei nach der Wahl Zünglein an der Waage sein wird, die darüber zu entscheiden hat, ob Mette Frederiksen im Amt bleibt oder ob zum Beispiel Løkkes ehemals vertrauter Parteifreund Jakob Ellemann ins Staatsministerium einzieht. Løkke spielt im Wahlkamf den moderaten Oberlehrer, lässt sich natürlich nicht in die Karten schauen, denn sein Ballon steigt ja nur solange nach oben, bis er den wachsenden Forderungen entspricht, sich auf einen kommenden Staatsminister festzulegen. Pustekuchen, Løkke denkt gar nicht daran, sondern will mit seiner Forderung nach einer Regierung über die Mitte hinweg das Heft des Handelns in der Hand behalten, wobei die „Mitte“ ja politisch gar kein fester Standort ist. Sein Lieblingsspruch „Jeg peger ikke på nogen, men på noget”, was bedeutet, ihm gehe es „nicht um irgendjemanden, sondern um irgendetwas“, klingt genial, ist aber bewusst so luftig gehalten, dass er dabei die eigene Höhe nicht verliert.

Wenn Løkke darauf angesprochen wird, er könne ja schließlich in einer parlamentarisch verfahrenen Situation selbst den Staatsminister übernehmen, dann weist er solche Spekulationen natürlich mit einem Lächeln von sich, um aber im gleichen Atemzuge zu betonen, dass er sich dieses Amt natürlich angesichts eigener Erfahrungen durchaus zutraut. Und wenn keiner bereit ist... na, dann klar! Løkke kann aber nur Staatsminister werden, wenn die „Blauen“ ihn lieber im Amt hätten als die in manchen bürgerlichen Kreisen ziemlich verhasste Sozialdemokratin Mette Frederiksen. Wäre das als Alternative für das Land vielleicht denkbar? Unwahrscheinlich, obwohl sowohl Venstre als auch die Konservativen das Angebot einer Regierung über die Mitte von Mette Frederiksen bisher strikt ablehnen. Und die Sozialdemokraten werden nach der Wahl kaum Mette Frederiksen opfern, um an der Macht zu bleiben. Wer sich in diesem Wahlkampf zuerst bewegt, der stirbt. Also herrscht Spannung und Ungewissheit, genau das passt in Løkkes Konzept, zumal viele bürgerliche Wähler inzwischen Pape als echten Staatsminister-Kandidaten längst abgeschrieben haben. Hier liegt die große Chance von Løkke, der wie kein anderer bei Verhandlungen im Rahmen der sogenannten Königin-Runde zu manövrieren weiß – jedoch immer abhängig davon, wie die Mandate am 1. November fallen werden.

Lars Løkke empfiehlt sich selbst als großer Reformer, und in der Tat stehen die Folketingspolitiker in der vielleicht schwersten Krise seit 1945 (Ukraine-Krieg, Energiekrieg, Inflation und Klima) vor der Notwendigkeit zu einschneidenden Maßnahmen, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Hier ist Løkke ein Meister seines Fachs, er hat selbst Reformen im Krankenhauswesen durchgeführt, vor allem bei der Krebsbehandlung, die noch heute als seine Meisterarbeit anerkannt wird. Als Gesundheitsminister einer neuen Regierung hätte er gewiss alle Fähigkeiten. Aber wenn er zum Beispiel fordert, die für das Krankenhauswesen zuständigen Regionen im Lande abzuschaffen, dann muss man ihn schon daran erinnern dürfen, dass er selbst die Ämter niederlegte und damit erst jene Regionen schuf, die er nun – viel zu einfach – als einen der Schuldigen für die Mängel im System verantwortlich macht. Und hat etwa die Kommunalreform, die er damals als Innenminister federführend betrieb, nur Glück und Segen fürs Land gebracht? Es ist doch kein Zufall, dass seine einstige Venstre-Ministerin Inger Støjberg mit ihren Dänemark-Demokraten und ihrem Jütland-Programm auf so viel Gegenliebe stößt!

Eine private Röntgenaufnahme des Politikers Løkke würde ans Tageslicht bringen, dass er keineswegs nur der Heilsbringer ist, für den er sich selbst hält – und dem bisher scheinbar immer mehr Wähler der Mitte zustimmen.

Profi Løkke weiß, dass er seine Karten nicht überreizen darf, aber vorläufig hält er sich mit seinen oft nebulösen Aussagen im Wahlkampf an den recht erfolgreichen Spruch des bekannten dänischen CD-Politikers Erhard Jacobsen, der einst von sich behauptete: „Ich verspreche, dass ich nichts versprechen kann.“ Das brachte ihm bei der damaligen sogenannten Erdrutsch-Wahl 7,8 Prozent! 

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