Leitartikel

„Der Schwarze Schwan und die Wahlen“

Der Schwarze Schwan und die Wahlen

Der Schwarze Schwan und die Wahlen

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
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Jan Diedrichsen, Leiter des Sekretariats der Deutschen Volksgruppe in Kopenhagen, musste nach den ersten Analysen der Europäischen Wahlen an die schwarzen Schwäne eines Schriftstellers denken.

Als ich gestern am frühen Morgen die ersten Analysen der Europäischen Wahlen im Radio hörte, musste ich an die Schwarzen Schwäne und die „Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“ von Nassim Nicholas Taleb denken. Der Publizist und Börsenhändler Taleb hatte 2007 mit seinem Buch für Furore gesorgt, weil er den Journalisten, Kommentatoren, Wirtschafts- und Politikexperten, Historikern und Soziologen, ja eigentlich allen Weltendeutern in toto, die Fähigkeit absprach, valide Aussagen über die Zukunft und die Vergangenheit zu machen.

Der Lauf der Weltendinge werde viel mehr durch Schwarze Schwäne dominiert: Man hält sie für völlig unmöglich bzw. hat sie gar nicht auf dem Schirm, bis sie plötzlich da sind und alles verändern. Die Erfindung des Penizillins, die Entdeckung Amerikas, der Fall des Eisernen Vorhanges, die Anschläge vom 9. September, der Zusammenbruch der Börsen, die Kernschmelzen in Tschernobyl oder Fukushima. Diese Ereignisse hatte niemand in dem Heer der Experten – egal welcher Observanz und Fachrichtung – vorher auf dem Radar. Dennoch dauert es gewöhnlich nicht lang, und dieselben Experten haben Erklärungen für die Schwarzen Schwäne zurechtgezimmert und pinseln diese sozusagen retrospektiv wieder weiß.

Der Mensch kann mit Unsicherheit nicht leben und erklärt sich die Welt sozusagen im Nachgang schön und einleuchtend, um dadurch in seiner Gewissheit nicht herausgefordert zu werden (das gilt übrigens auch für das Privatleben – aber das ist ein anderes Thema). Nun können die Wahlergebnisse vom Sonntag schwerlich mit dem Fall der Mauer oder der Entdeckung Amerikas verglichen werden – aber doch: Viele Experten sind düpiert.

Wer hat das vorausgesagt: Die Partei des viel gescholtenen Regierungschefs Lars Løkke Rasmussen wurde in Dänemark stärkste Kraft. Lars Løkke scheint bislang alles richtig gemacht zu haben. Die Strategie, die EU-Wahlen als Turbo für die am 5. Juni stattfindenden nationalen Wahlen zu nutzen, ist voll aufgegangen.

Wer im Wahlkampfzimmer der Sozialdemokraten dabei war, als klar wurde, dass man nur zweitstärkste Kraft werden würde, konnte die Überraschung und Verblüffung durch das ostentative Schweigen der Genossen nahezu greifen. Der zweite Kracher war das desaströse Abschneiden der Rechtspopulisten von der Dänischen Volkspartei, das in dieser Dimension nicht erwartet worden war. Nur noch ein Mandat ist übrig. Eine Halbierung der Stimmen. Wenn ich für einen kurzen Moment die Augen schließe, dann höre ich schon die Experten sich über den „genialen Strategen“ Lars Løkke Rasmussen überschlagen, sollte dieser am 5. Juni als Gewinner vom Feld steigen – auszuschließen ist das nicht.

Zum Abschluss ein Schlaglicht und ein Vergleich zwischen dem Wahlergebnis in Dänemark und der Gesamt-EU. Die gestiegene Wahlbeteiligung in ganz Europa war nicht zuletzt in Dänemark exzeptionell hoch – vor allem in der Hauptstadt Kopenhagen. Das Klima-Thema hat in Dänemark und in vielen Ländern (West-)Europas die Wähler mobilisiert. Ein Thema, das die Agenda der nächsten Zeit bestimmen wird. Die Rechtsaußen-Kräfte konnten nicht, wie befürchtet, das Europäische Parlament entern. Trotz der bedrohlichen Wahlergebnisse in Polen, Ungarn und Italien blieb der Durchmarsch zum größten Block im EU-Parlament vor den Toren Brüssels stocken. Es reicht nur zum drittgrößten Bündnis hinter den Konservativen der EPP und den Sozialisten/Sozialdemokraten.

Aber die Gemeinsamkeiten des dänischen und des gesamteuropäischen Ergebnisses sind in einem ganz wesentlichen Punkt grundverschieden: Während in Europa die etablierten Parteien von Konservativen und Sozialdemokraten massive Verluste einfuhren, hat sich in Dänemark der Wähler für die „guten alten Parteien“ entschieden und die Überflieger und EU-Gegner massiv abgestraft. Wer hätte das in dieser Deutlichkeit erwartet? Die Experten aller Länder werden nun verstärkt nach Margrethe Vestager und den „komischen Dänen“ Ausschau halten.

Sollte in den nächsten Tagen kein Schwarzer Schwan auf Christiansborg landen, dann kann der Experte mit der Inbrunst der Überzeugung und mit Blick auf den Wahltermin am 5. Juni mit Gewissheit verkünden: Nichts Genaues weiß er nicht, aber das wiederum vermittelt er mit großer Selbstverständlichkeit und profundem Wissen ...

 

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