Leitartikel

„Querdenken für Zugezogene“

Querdenken für Zugezogene

Querdenken für Zugezogene

Apenrade/Aabenraa
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Aus Deutschland ziehen viele Menschen nach Nordschleswig. Das ist toll, findet Cornelius von Tiedemann. Er reicht auch jenen die Hand, die sich selbst als „querdenkend“ bezeichnen und bietet einen Crashkurs Dänemark. Weshalb sich so manche der Freiheitssuchenden vergebens Hoffnung auf mehr Akzeptanz im Norden machen dürften, erklärt er auch.

Wir hören es derzeit aus der Immobilienbranche, aus Schulen und Kindergärten, vom Infocenter Grenze und aus den kommunalen Behörden: Die Zahl der Menschen, die aus Deutschland nach Dänemark, insbesondere nach Nordschleswig, ziehen will, nimmt dramatisch zu.

Das ist erstmal eine tolle Nachricht: Nordschleswig ist ein attraktiver Wohn- und Arbeitsort für Menschen aus weit entfernten Regionen.

Doch nicht alle, die kommen, sind ernsthaft darauf vorbereitet, sich in einem anderen Land und in eine für sie bisher weitgehend fremde Gesellschaft zu integrieren. Auch das bekommen wir, wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand, zu hören.

Denn Tatsache ist: Unter jenen, die neu nach Dänemark und Nordschleswig kommen, sind auch so manche, die in Deutschland als „Querdenkende“ bezeichnet werden.

Nun ist das Querdenkertum in Deutschland keine homogene Gruppe und zum Glück gibt es keine Gesinnungskontrolle an der Grenze. Deshalb haben wir natürlich auch keine belastbaren Zahlen dazu, wer aus welchen Gründen zu uns kommt. Gesinnungsuntersuchungen machen wir in Nordschleswig nicht, das weiß die Minderheit am allerbesten!

Doch es beschleicht einen der Verdacht, dass manche jener, die sich, dank der ihnen ansonsten suspekten EU, ganz aus den südlichen Gefilden Deutschlands auf den Weg in eine Zukunft in Dänemark machen können, falsche Vorstellungen von der Art der „Freiheit“ haben, welche sie hier erwartet.

Schweizer Forscherinnen und Forscher haben die Gemeinsamkeiten jener bunten Schar, die in Deutschland unter das Prädikat „Querdenkende“ fällt, aufgrund umfangreicher Studien definiert. Sie attestieren ihnen „eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und – zumindest für Deutschland – den alten Volksparteien.“

Ja, Dänemark ist lockerer mit dem Coronavirus umgegangen als Deutschland. Und ja, jetzt werden alle inneren Beschränkungen abgeschafft. Das klingt natürlich erstmal attraktiv für all jene, die staatliche Restriktionen grundsätzlich ablehnen.

Aber das geschieht doch nicht, weil Politik und Gesellschaft in Dänemark nicht von der Gefährlichkeit des Virus und der Wirksamkeit und Notwendigkeit der Impfungen und der anderen Maßnahmen überzeugt waren.

Im Gegenteil: Politik und Gesellschaft haben an einem Strang gezogen – auch wenn es im Detail nach einer geradezu harmonischen Anfangsphase zu Differenzen darüber kam, wie sehr der Staat durchgreifen können sollte.

Die Menschen in Dänemark haben sich schnell und zahlreich impfen lassen, gerade die Älteren.

Und gerade weil es keine „Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems“ gibt, sprich: Weil es keine besonders verbreitete Querdenk-Bewegung in Dänemark gibt, hat Dänemark den Weg durch und (hoffentlich) aus der Corona-Krise reibungsloser gemeistert als Deutschland.

Das übersehen die, die herkommen, weil sie auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung ohne staatliche Einmischung setzen.

Sie übersehen, dass Dänemark trotz Corona-Lockerungen und rigider Grenzpolitik keine Spielwiese für alternativ- und anthroposophisch-libertäre Deutsche ist, die mit der Mehrheitsgesellschaft abgeschlossen haben. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Dänemark mag und schätzt den Zusammenhalt, auch bei unterschiedlichen Meinungen – und sie versteht, nicht ohne Kritik natürlich, den Staat als die Gemeinschaft, der sie selbst als wichtiger Teil angehören.

Auch deshalb ist hier relativ reibungslos möglich, was in Deutschland nicht möglich ist oder zu Protesten, auch und besonders von den „Querdenkenden“ führt oder führen würde.

Neben den Corona-Maßnahmen könnten wir aufzählen: Anlasslose Vorratsdatenspeicherung, Google-Streetview bis zur letzten Sackgasse, Tempolimits, hohe Bußgelder und enorm hohe Steuern auf Autos (und fast alles andere), ein zentrales Personenregister (CPR), das den Menschen eine Nummer zuweist, an die sich schiere Unmengen von persönlichen Daten knüpfen – auch die Gesundheitsdaten –, eine komplett digitalisierte Kommunikation zwischen dem Staat, sämtlichen Institutionen und den Bürgerinnen und Bürgern und vieles mehr.

Also, liebe selbsternannte „Querdenkende“ unter den vielen anderen, die damit gar nichts am Hut haben und einfach nur das Abenteuer Dänemark genießen wollen: Es liegt sicher nicht an mir, Euch in Dänemark willkommen zu heißen, aber das seid ihr ganz gewiss.

Nur, um Euch hier auch langfristig wohlzufühlen, solltet ihr ein wenig Integrationswillen zeigen – und  das Quergedenke vielleicht in Deutschland lassen.

Wer also nochmal darüber nachdenken will, dem sei geraten, noch vor der Grenze umzudrehen: Dahinter lauern nämlich allerorten Nummernschildscanner.

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