Leitartikel

„Schein und Wirklichkeit“

Schein und Wirklichkeit

Schein und Wirklichkeit

Kopenhagen
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Scheinbar geht es in den sozial benachteiligten Vierteln schlecht wie eh und je. In Wahrheit sind die Jugendlichen aus diesen Vierteln dabei, das soziale Erbe zu durchbrechen. Das darf man ruhig mal loben, meint Walter Turnowsky.

Hat man bei der Arbeit ein negatives Erlebnis gehabt, so braucht es zwei bis drei positive, nur um das wieder auszugleichen. Das zeigt die Forschung von Psychologinnen und Psychologen.

Oder anders ausgedrückt, schimpft die Chefin oder der Kollege, braucht es viermal Lob, um die Situation wieder ins Positive zu wenden. Ihr könnt es ja eventuell an euch selbst testen: Was motiviert euch mehr bei der Arbeit oder in der Schule? Lob oder das Ankreiden von Fehlern?

Übrigens: Im Privatem braucht es sogar fünf positive Erlebnisse, um eine negatives auszugleichen. Also vielleicht doch häufiger mal Rosen statt schlechter Laune mit nachhause bringen.

Was in den Familien, am Arbeitsplatz und in der Schule gilt, das gilt selbstverständlich auch in der breiteren gesellschaftlichen Diskussion. Wenn über eine Gruppe von Menschen vorwiegend negativ gesprochen wird, dann trägt das in keiner Weise dazu bei, Probleme zu lösen, sondern es verstärkt sie noch.

Jugendliche machen sich schlechter als sie sind

Werden Menschen immer nur negativ beschrieben, fangen sie sogar selbst an, daran zu glauben, sehen sich negativer, als sie sind. Eine Studie des Soziologen Aydin Soei über Jugendliche im Kopenhagener Nordwest-Viertel belegt dies laut „Politiken“ eindrucksvoll.

Das Viertel mit hohem Migrantenanteil wurde vor vier Jahren von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden kriminellen Banden heimgesucht. Befragt, wie viele ihrer Freunde und Freundinnen Mitglied einer Bande sind, lautet die Antwort der Jugendlichen, es seien 20 Prozent. In Wahrheit sind es nur 2 Prozent.

Das Problem dieses falschen Selbstbildes ist offensichtlich: Wenn kriminelles Verhalten als relativ normal gesehen wird, dann ist das Risiko, dass man es nachahmt, deutlich größer.

Bildungsquote steigt rapide an

Die Wirklichkeit in dem angeblich so belasteten Viertel ist nämlich eine andere; 76 Prozent der 15- bis 18-Jährigen haben nach der Volksschule eine weiterführende Ausbildung begonnen, viele haben Freizeitjobs und nehmen an Freizeitaktivitäten teil. 60 Prozent geben an, die Eltern würden sich in hohem Maß für ihren Alltag interessieren und sie motivieren.

Einiges deutet darauf hin, dass man die Erkenntnisse dieser Studie getrost auf andere der sozial benachteiligte Viertel, wie Nørager/Søstjernevej in Sonderburg übertragen kann. Landesweit haben im Schuljahr 2016/2017 60 Prozent der Jugendlichen aus den sogenannten harten Ghetto-Vierteln eine Ausbildung abgeschlossen. Zehn Jahre früher waren es lediglich 40 Prozent.

Diese Entwicklung hat jedoch keine Schlagzeilen gemacht. Wird kaum bis gar nicht von der Riege der strammen Ausländerpolitikerinnen und -politiker erwähnt.

Hier soll nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass es in den sozial benachteiligten Vierteln weiterhin Probleme gibt. Doch die werden wir kaum lösen, wenn wir immer dreimal schimpfen bevor wir einmal loben.

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