Die Woche am Alsensund

„Du bist am Ende – was du bist“

Du bist am Ende – was du bist

Du bist am Ende – was du bist

Sonderburg/Sønderborg
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Warten auf einen Gesprächspartner für ein Interview im Freien – diese Situation kommt dieser Journalistin derzeit sehr bekannt vor … Foto: Karin Riggelsen

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Die Rückkehr in einen einigermaßen normalen Alltag führt vor Augen, wie unterschiedlich Menschen sind, stellt Kolumnistin Sara Wasmund in ihrer Kolumne fest. Warum man sich dabei auch mal richtig dumm fühlen kann, verrät sie in „Die Woche am Alsensund“.

Diese Woche am Alsensund stand ganz im Zeichen der Wiedereröffnung. Auf einen Teller Schweinefrikassee ins Restaurant Alsik, einen Schaumlatte mit Schokoherzmuster schlürfen im Café Kisling oder ein Rundgang zwischen künstlerisch aufbereiteter Tennissocken im Kunstzentrum Augustiana – Aufbruch allen Ortens.

Wobei ich mich zwischen den Röhreninstallationen aus Tennissocken im Stillen gefragt habe, ob die Künstlerin vielleicht mehr verloren hat als nur ihre Tennissocken.

Verständnislosigkeit, die sich aber keiner anmerken lässt

Zu allem Überfluss hörte ich mitten im Ausstellungsraum tief in mir die Stimme meiner Oma seufzen: „Wie schade um diese schönen Tennissocken.“ So wie ich das sehe, gehört zu einer experimentellen Kunstausstellung eine gehörige Portion Verständnislosigkeit dazu – die sich aber keiner anmerken lässt.

„Was soll der Blödsinn?“ Diese Frage mag sich zwar aufdrängen, ist aber unangebracht und respektlos. Ich schiebe die Schuld dann am Ende immer auf mich und akzeptiere, dass ich es einfach nicht verstehe.

Von den Socken ist man bei der aktuellen Ausstellung in Augustiana Foto: Sara Wasmund

An dieser Stelle fällt mir eine ähnliche Begebenheit aus einem anderen Leben ein. Damals, als ich noch regelmäßig eingeklemmt zwischen Hunderten Billigpassagieren nach London reisen durfte, um meine ausgewanderte Freundin Iris zu besuchen.

Wir standen im Modern Tate schweigend vor einem meterhohen „Kunstwerk“ aus Eisenstücken. Iris brach das Schweigen mit einer nüchternen Feststellung: „Das sieht aus wie eine kaputte Kutsche“. Seitdem, ich gebe es zu, ist mein Verhältnis zu Kunstinstallationen für immer zerrüttet. Ich sehe, bildlich gesprochen, immer nur die kaputte Kutsche statt der Kunst.

Doch zurück zur Wiedereröffnung. Während mir meine Freundin aus Süddeutschland täglich von neuen Restriktionen, Geisterstädten, Ausgangssperren und  Spaziergängern mit Masken berichtet, geht das Leben hierzulande wieder einigermaßen normal weiter.  

Endlich wieder Dinge kaufen, die wir eigentlich nicht brauchen

Wir dürfen wieder zur Sinnsuche ins Museum, in Einkaufszentren Dinge kaufen, die wir eigentlich nicht brauchen, und die meisten Menschen sehen nach dem Besuch eines Friseurs nun auch wieder einigermaßen normal aus.

Lediglich die Konzerthäuser müssen sich noch ein wenig gedulden, erst am 6. Mai darf das Publikum wieder vor der Bühne sitzen oder stehen und Konzerte genießen. Das Sønderborghus überbrückt die Zeit bis dahin mit einem kleinen Online-Festival, bei dem man sich die Konzerte über den Live-Stream nach Hause holen kann.

Bei Bandnamen stoße ich übrigens auch regelmäßig an meine Grenzen, wenn ich Vorankündigungen schreibe und dabei in die mürrischen Gesichter einer Hardcoreband blicke, die sich „Earn Your Scars“ oder „Defecto“ nennt. Aber gut, Geschmäcker sind verschieden und die Konzerte mit den mürrischen Musikern meist ausverkauft.

Freitagnachmittag in der Sonderburger Innenstadt – endlich wieder fast normaler Alltag Foto: Sara Wasmund

Am Ende dieser Woche kam eine Pressemitteilung quasi direkt vom Alsensund, aus der Süddänischen Universität nämlich, die wenige Meter vom Sund ihr Zuhause hat. Die SDU gab darin bekannt, dass sich der Leiter des Mads Clausen Instituts langfristig an die Institution gebunden und seinen Vertrag verlängert hat.

Da wurden erneut Erinnerungen wach. An ein Interview mit einem Forscher des Instituts, mit dem ich vor einiger Zeit über Nano-Technologie sprach.

 

Der Mann hatte von einer Stiftung 2 Millionen Kronen für seine Nano-Forschung erhalten, und ich wollte einen Artikel darüber schreiben, was man als Nano-Forscher eigentlich so macht. Während mir der Forscher von seiner Arbeit mit Nanopartikeln erzählte und wie diese einfachen physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgen, sodass er ihr Verhalten „programmieren“ kann, fühlte ich mich mit jeder Minute dümmer.

Kurz darauf stiegen wir hinab in die Katakomben des Alsion

Mit den „einfachen physikalischen Gesetzmäßigkeiten“ hatte ich bereits in Klasse 9 ganz gewaltige Schwierigkeiten. Während ich also nachfragte und niederschrieb, wuchs meine Bewunderung für diesen Menschen ins Unermessliche. Kurz darauf stiegen wir hinab in die Katakomben des Alsion, wo diverse Nano-Labore eingerichtet sind. Wir gingen in einen Raum, wo mir der Forscher eine Laser-Laufbahn zur Nano-Forschung zeigen wollte.

Diese hochkomplizierte Nano-Laufbahn hielt ich zunächst für einen unordentlichen Abstellschrank. Foto: Sara Wasmund

 

Er öffnete ein schrankähnliches Gebilde, das für mich wie ein unordentliches Regal aussah, und kurz bevor ich meinen Gedanken laut aussprechen konnte, dass die hier unten aber nicht gerade Ordnung halten, stellte sich heraus, dass der „unordentliche Schrank“ die Nano-Laufbahn WAR und jedes einzelne Gerät fest montiert und millimetergenau platziert war. Selten war ich froher, einen Gedanken nicht laut ausgesprochen zu haben.

 

Weiter ging es in ein zweites Labor, wo ein mit Helium betriebenes, anderthalb Meter großes Super-Mikroskop vor sich hin dampfte. Mein Fazit: Würde man mich 20 Jahre lang in diesen Labors einsperren und mir den Auftrag geben, die Nano-Forschung zu betreiben – nichts würde passieren. Vielleicht würde ich nach fünf Jahren den Stromschalter am Gerät ausfindig machen. Mit Glück.

Während die einen Musik hart und laut mögen, tanzen andere gerne zu Geigengedudel – oder nach der Pfeife anderer.

Sara Wasmund, Journalistin

Und so stelle ich während meiner Arbeit immer wieder fest, wie unglaublich verschieden die Menschen doch sein können. Während ich mit Menschen spreche, Papiere durchforste, recherchiere und am Ende alles in Artikeln zusammenfasse, backen andere täglich Brote und Marzipantorten, erforschen Nano-Partikel für die Krebstherapie, fahren Bus oder legen Druckverbände an Zwei- oder Vierbeinern an.

Es gibt Produzenten und Prominente, Optiker, Opernsänger, Goldschmied und Steinsetzer, Erzieher und Erntehelfer, Musiker und Geigenbauer, Übersetzer und Übungsleiter, Physiker und Physiotherapeuten. Während die einen Musik hart und laut mögen, tanzen andere gerne zu Geigengedudel – oder nach der Pfeife anderer.

Fähigkeiten anzapfen und ausnutzen

Jeder versucht, so gut es geht, all jene Fähigkeiten und Interessen anzuzapfen und auszunutzen, die in einem stecken. Hinzu kommen die Bedingungen, unter denen wir groß geworden sind, die uns geprägt haben. Und unsere Leidenschaft für gewisse Dinge. Während ich schon als Kleinkind auf Pferdekoppeln gelaufen bin, um auf ein Pferd zu klettern, finden die Kinder von Freunden „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von Stephen Hawking total spannend.

Mit zunehmender Wiedereröffnung und der Rückkehr des Alltags wird die Palette unserer Verschiedenheiten wieder deutlicher. Ob Restaurantbetreiber, Lebensmittelproduzent, Künstler, Konsument oder Veranstalter – unsere Gesellschaft läuft nur deshalb, weil wir so verschieden sind. Mit Raum für Tennissockenträger und Tennissocken-Künstler.

Oder, um am Ende dieser Woche am Alsensund Johann Wolfgang von Goethe das Wort zu überlassen: „Du bist am Ende – was du bist. Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer, was du bist.“

 

 

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