Die Woche am Alsensund

„Gefallen und gefallen“

Gefallen und gefallen

Gefallen und gefallen

Sonderburg/Sønderborg
Zuletzt aktualisiert um:
Gedenkfeiern wie hier in Gravenstein gehören im deutsch-dänischen Grenzland zum Alltag dazu. Foto: Sara Wasmund

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Krieg und Handgranaten im deutsch-dänischen Grenzland? Am Rande einer Gedenkstunde machte sich Journalistin Sara Eskildsen in dieser Woche am Alsensund Gedanken darüber, wozu Menschen fähig sind.

In dieser Woche am Alsensund stand am Mittwochvormittag eine Gedenkstunde in Gravenstein auf meinem Arbeitsprogramm. In strömendem Regen schlug ich drei Minuten vor 10 Uhr vor dem Gravensteiner Schloss Block und Schirm auf. Ich versuchte krampfhaft, Regenschutz, Papierblätter, Bleistift und Handykamera unter Kontrolle zu kriegen. Ein dritter Arm wäre nicht übel gewesen, war aber nicht aufzutreiben.

Während mir der Sturm immer wieder dicke fiese Regentropfen in den Nacken wehte, versuchte ich mir die Szenerie vor Augen zu führen, die sich am 26. Mai 1944 auf dem Grundstück vor mir abgespielt hatte.

Damals wollte die Gestapo den dänischen Oberst Svend Paludan-Müller festnehmen. Dieser widersetzte sich – und es kam zum Kampf.  Nach drei Stunden stand das Haus in Flammen, und der Oberst war tot. 77 Jahre später ist der gefallene Oberst in Gravenstein noch immer unvergessen – und an seinem Todestag am 26. Mai werden Blumen an die Gedenkmauer gelegt.

Das Damals fühlt sich heute völlig unwirklich an

Wenn ich als Deutsche an derlei Gedenkstunden teilnehme, um darüber zu berichten, beschleicht mich immer mal wieder ein Gefühl der Beklommenheit. Ein Gefühl, das ich weder haben möchte noch haben sollte. Es ist aber dennoch da. Eine Mischung aus Scham und Mitleid, weil Jahrzehnte vor mir im Namen einer Nation, im Auftrag meines Heimatlandes, so vielen Menschen Leid zugefügt wurde.

Das Damals fühlt sich heute völlig unwirklich an – obwohl ich es bin, die die Wirklichkeit damals nicht miterlebt hat. Die sich kaum vorstellen kann, dass es hier im deutsch-dänischen „Interreg-wir-bauen-Brücken-und-ganz-Europa-kann-was-von-uns-lernen-Grenzland“ mal etwas anderes gab als gutes Miteinander, Kaffeetafeln und Akzeptanz.

Nämlich Krieg, Hass und Feindschaft. Tote und Handgranaten. Gefangennahmen und Verhöre. Das alles scheint mir so weit weg. Dabei war ich es, die damals weit weg war: noch lange nicht geboren.

Meine Wirklichkeit ist eine andere als die der Menschen, die zwischen 1940 und 1945 in Nordschleswig gelebt haben. Ich habe das deutsch-dänische Grenzland immer nur als ein offenes und oftmals zweisprachiges Stück Erde empfunden, in dem die deutsche Minderheit inmitten der dänischen Mehrheit zu Hause ist, sein darf und zum Miteinander beiträgt.

Eine Gedenktafel mit Namen von gefallenen Grenzbeamten Foto: Sara Wasmund

77 Jahre später scheint es mir völlig undenkbar, dass am Gravensteiner Schloss keine Spaziergänger und Touristen flanierten, sondern Soldaten und Gestapo-Truppen.

In der vergangenen Woche hatte ich Museumsleiter Hauke Grella im Deutschen Museum für Nordschleswig besucht, um über einen neuen Ausstellungsbereich zu schreiben. Im Raum über die Zeit des Nationalsozialismus in Nordschleswig werden ab Juni die Porträts von Hunderten Gefallenen gezeigt, die im Zweiten Weltkrieg aus Nordschleswig für Deutschland kämpften und nie zurückkehrten.

Geschosse statt Getreide ernten

Der Blick in die Kindergesichter, die stolz aus ihren Uniformen blicken, macht schnell klar, dass es eben nicht Gut gegen Böse, schwarz und weiß war. Viele der Kriegsfreiwilligen waren Jungs, die vermutlich überhaupt keine Ahnung hatten, worauf sie sich einließen. Wofür sie kämpften. Sie zogen aus der Beschaulichkeit der nordschleswigschen Idylle in den Krieg – und ernteten Geschosse statt Getreide auf dem heimischen Hof.

Aber im Grunde war es nicht „der Krieg“. Es waren Menschen. Menschen die Befehle gaben und Pläne schmiedeten, Hass schürten und mit Gefühlen spielten, um einen Krieg zu gewinnen. Menschen, die anderen Menschen gefallen wollten – und zu Gefallenen wurden.

Sara Wasmund, Journalistin

„Wir wollen zeigen, was der Krieg angerichtet hat“, sagte mir der Museumsleiter. Aber im Grunde war es nicht „der Krieg“. Es waren Menschen. Menschen, die Befehle gaben und Pläne schmiedeten, Hass schürten und mit Gefühlen spielten, um einen Krieg zu gewinnen. Menschen, die andere Menschen gefallen wollten – und zu Gefallenen wurden.

Keine Gedenkstunde und kein Museumsbesuch der Welt können mir die Frage beantworten, wie es „damals“ so weit kommen konnte. Eine einfache Antwort gibt es einfach nicht. Aber Gedenken und Beschäftigung mit der Wirklichkeit von einst schärfen den Blick dafür, wozu der Mensch fähig ist. Zu tiefem Hass und Gewalt, aber auch zu Versöhnung und Vergebung. Zu Heldenmut und Hörigkeit, Gerechtigkeitssinn und Grausamkeit.

Zu all dem sind Menschen in der Lage. Das Potenzial ist da – und kann gefüttert werden. Durch Gedanken, Lebenslagen, Beeinflussung und einem Mix aus allem zusammen.

Vielleicht gibt es in 77 Jahren digitale Schirme?

Gedenkstunden und Museumsbesuche sind immer ein gutes Futter, um sich die Wirklichkeit der anderen vor Augen zu halten. Und in 77 Jahren ist meine heutige Wirklichkeit irrelevant, und ich liege irgendwo begraben.

Vielleicht liest dann jemand in einem uralten Internet-Archiv meine Kolumne und wundert sich, dass damals noch auf Papier mitgeschrieben wurde. Bleistift und Handschrift sind dann vermutlich völlig aus der Mode – und vielleicht gibt es bis dahin ja auch einen dritten Arm. Oder zumindest digitale Schirme …

 

Mehr lesen