Revolution in Minsk
Oppositioneller aus Belarus in Sonderburg: Angst und Hoffnung
Oppositioneller aus Belarus in Sonderburg: Angst und Hoffnung
Oppositioneller aus Belarus in Sonderburg: Angst und hoffen
Jurij Bogovic hat seine Heimat Belarus als 30-Jähriger verlassen, weil er um sein Leben fürchtete. Der ehemalige Oppositionspolitiker lebt seit Jahren in der Kommune Sonderburg – und verfolgt über das Internet täglich die Proteste in seinem Land. Im Interview spricht er über den Mut der Bürger und über eine EU, die tatenlos zuschaut.
1.579 Kilometer Straße liegen zwischen Sonderburg und Minsk, der Hauptstadt von Belarus. Doch für den Arzt Jurij Bogovic sind die Geschehnisse in seinem Heimatland alles andere als weit weg. Jeden Tag verfolgt der 59-Jährige über sein Mobiltelefon, wie es in seiner Heimat weitergeht.
1992 verließ der damals 30-Jährige seine Heimat Belarus, mittlerweile lebt er seit Jahren in Nordschleswig, bei Sonderburg. In der Deutschen Bücherei in Sonderburg trifft „Der Nordschleswiger“ den Familienvater, um mit ihm über die Lage in Belarus zu sprechen.
Warum hast du dein Land damals verlassen?
Ich bin 1993 nach Deutschland gezogen. Ich war in Belarus als Oppositionspolitiker sehr aktiv, sowohl vor als auch nach dem Fall der Sowjetunion. Irgendwann stand ich vor der Wahl: Entweder mache ich weiter und riskiere mein Leben, oder ich gehe. Der Liebe zu meiner Frau wegen habe ich mich dann entschieden, das Land zu verlassen und nach Deutschland zu gehen.
Wie hast du für die Opposition gearbeitet?
Ich bin als unabhängiger Kandidat für das Parlament angetreten. Der russische Geheimdienst hat das am Ende verhindert. Ich kam ins Finale der Kandidaten, aber ich war viel zu ehrlich. Nach der Katastrophe von Tschernobyl wurde viel gepfuscht und vertuscht. Ich habe darüber geredet und gefordert, dass das Krankenhaus des KGB für Kinder und Jugendliche genutzt werden kann, die infolge der radioaktiven Strahlung schwer krank wurden. Das kam nicht gut an. Ich stand als Oppositioneller auf Bühnen und habe meine Meinung offen gesagt. Ich fand schon immer: Ehrlichkeit ist die beste Politik.
Wohin bist du gegangen?
Nach Berlin, da habe ich als Onkologe gearbeitet und promoviert. 2009 bin ich mit meiner Frau, die Halb-Belarussin ist, nach Nordschleswig gezogen. Hier habe ich als Arzt im Sygehus Sønderjylland gearbeitet.
Kannst du nachvollziehen, wie es der Opposition und den Demonstranten in Belarus geht?
Ja, es ist ein Schwanken zwischen Angst und Hoffnung. Angst, dass es so weitergeht und sich die Regierung an der Macht halten kann. Dass Lukaschenko aufs Volk schießen wird, oder dass es so weitergeht wie jetzt. Politiker, Journalisten und Regimekritiker verschwinden, werden gefoltert und getötet.
Frauen und Männer werden vergewaltigt. Hier spielen sich grausame Geschichten mitten in Europa ab.
Jurij Bogovic
Frauen und Männer werden brutal geschlagen und vergewaltigt. Hier spielen sich grausame Geschichten mitten in Europa ab. Viele Oppositionelle sind nach Polen geflüchtet. Polen hat bereits über eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Lukaschenko hat einmal gesagt, dass er nicht einmal als Toter seine Macht abgeben wird. Aber die Menschen in Belarus haben genug von einem Regime, das aus alten, machthungrigen und von Russland gesteuerten Männern besteht.
Woher nehmen die Bürger den Mut, auf die Straße zu gehen, ihre Arbeit niederzulegen und zu demonstrieren?
Viele Menschen haben die Regierung als Absicherung gesehen und gesagt: Wir lieben sie nicht, aber unsere Löhne werden gezahlt und wir haben unsere Ruhe. Die Belarussen sind sehr geduldig und leidensfähig. Viele junge Menschen sind ausgewandert. Aber durch das Internet kann Lukaschenko nicht mehr steuern, was die Menschen sehen. Die Leute kriegen plötzlich Infos. Sehen, wie Bürger brutal zusammengeschlagen werden. Hier kommt eine neue Generation, weltoffen, liberal und mit Zugang zum Internet. Die wollen nicht mehr von einem psychisch kranken Diktator regiert werden, der in der Hand der Russen ist. Lukaschenko hat es geschafft, auch die unpolitischen Bürger gegen sich aufzubringen.
Wie schätzt du die Lage ein – wie geht es weiter in Belarus?
Eine Möglichkeit: Lukaschenko schießt auf das Volk und schlägt die Demonstrationen nieder. Das befürchten viele.
Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Regierung die Lage aussitzt und sich nicht wirklich etwas verändert. Oder, dass eine neue Marionette Russlands als Präsident installiert wird. Das Problem ist ja unsere direkte Lage an Russland. Ein Beispiel aus dem Alltag: Als Moderatoren und Journalisten eines Fernsehsenders aus Protest ihre Arbeit niedergelegt haben, saßen da am nächsten Morgen lauter neue Mitarbeiter – eingeflogen aus Russland. So wird Russland auch in Zukunft politisch alles tun, um die Macht zu behalten.
Ich persönlich hoffe auf das Szenario wie in Serbien 2000, als die Opposition nach Wahlen an die Macht kam und Milosevic zurücktreten musste. Auch Lukaschenko gehört vor das internationale Strafgericht in Den Haag.
Wie bewertest du das Verhalten Europas in dem Konflikt zwischen Regierung und Bürgern?
Das ist schwach. Aber das ist eine chronische Situation. Europa sagt, man ist besorgt, aber im Grunde macht man nichts. Europa hat ja auch die Kriege in Georgien, der Ukraine und in Tschetschenien geschluckt. Dahinter stecken viel Geld und wirtschaftliche Interessen.
Wie hältst du dich über die Lage in deiner Heimat auf dem Laufenden?
Über das Internet. Es gibt einen Online-Kanal, den ein junger Mann gegründet hat. Nexta Live. Dort werden laufend neue Videos hochgeladen, wie die Bürger demonstrieren. Der Nexta-Kanal auf dem Messenger „Telegram“ ist innerhalb weniger Tage von 400.000 auf über 2 Millionen Nutzer gestiegen und ist mittlerweile die wichtigste Informationsquelle für die Belarussen.
Construction workers are heading towards Lukashenko's palace in Minsk.#LukashenkoOut #Belarus pic.twitter.com/QXVKAUloX7
— NEXTA (@nexta_tv) September 1, 2020
Wir sitzen ständig am Mobiltelefon und verfolgen, was zu Hause passiert. Das Internet ist eines der wichtigsten Werkzeuge dieser Revolution. Die Regierung kann nicht länger kontrollieren, was gezeigt wird. Jetzt ist die Wahrheit zu sehen. Nicht mehr nur das gesteuerte Staatsfernsehen von Lukaschenko.