Leserinnenbeitrag

„Wenn aus Zahlen Menschen werden“

Wenn aus Zahlen Menschen werden

Wenn aus Zahlen Menschen werden

Michaela Nissen, Vorstandsmitglied des Sozialdienst Tondern
Tondern/Tønder
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Auch die Außenanlagen regten zur Nachdenklichkeit an. Foto: Privat

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Michaela Nissen berichtet aus persönlicher Sicht vom Besuch des Museums Flugt in Oksbøl mit dem Sozialdienst Tondern.

Stell dir vor, dein Land wird von einem anderen Land militärisch besetzt, und einen Tag später musst du plötzlich ein humanitäres Problem lösen. Gestern noch waren diese Menschen dein Feind und plötzlich sind sie Kriegsopfer! Wie gehst du damit um?

Diese und viele andere Fragen gingen mir durch den Kopf, als ich am Sonntagfrüh im Zug nach Kopenhagen saß, nachdem wir am Tag zuvor das neue Flucht-Museum in Oksbøl besucht hatten.

„Wie gut du es hast“, dachte ich. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, habe nie einen Krieg persönlich erlebt, musste nie fliehen, habe keinen nahen Verwandten bei Vertreibung und Flucht verloren, musste keine Angehörigen suchen lassen, habe ein Haus, das mir Heimat und Schutz bietet und lebe in einem Land, in dem Demokratie herrscht. Welch ein Privileg!

Das Museum wurde Ende Juni 2022 eröffnet. Foto: Privat

Ein außergewöhnliches Museum

Das Flucht-Museum ist ein außergewöhnliches Museum. Nicht nur architektonisch, sondern vor allem inhaltlich. Wer sich auf die besondere Atmosphäre einlässt, kann eigentlich nicht ohne ein Gefühl von Traurigkeit nach Hause fahren.

Es ist kein „schönes“ Museum, es ist ein Museum für alle Sinne und Gefühle. Ich habe die Stille des Außengeländes, des ehemaligen Lagers, ebenso aufgesogen wie die auf dem Friedhof.

Mir fehlten keine Baracken oder großen Schautafeln, ich habe es gespürt, wie es gewesen sein könnte und das hat mich mit Traurigkeit erfüllt, aber auch mit Resignation und Wut, dass sich bis heute nichts, aber auch gar nichts geändert hat.

Eine Installation unter freiem Himmel Foto: Privat

Fluchtbewegungen in aller Welt

Dies belegt eindrucksvoll der Teil des Museums, der sich mit den Fluchtbewegungen in aller Welt beschäftigt. Starke Bilder und Filme empfangen mich am Eingang, kaum zu ertragen!

Mit Hilfe von interaktiven Elementen, Filmen, Tönen und Gegenständen begegnet man den Menschen, die sich von allem, was sie kennen, verabschieden und sich auf die Flucht begeben mussten.

Man verfolgt ihre Flucht bis zur Ankunft in Dänemark und weiter zum Traum von einer neuen Zukunft, einem möglichen neuen Zuhause, aber auch zu Unsicherheit und Entbehrung.

Gäste können sich Gedanken machen, was sie auf einer Flucht mitnehmen würden. Foto: Privat

„Was würde ich auf der Flucht mitnehmen?"

Was würdest du auf die Flucht mitnehmen, wird an einer Station gefragt. Ein Kind hat geschrieben: „far, mor, varmt tøj, min mobil og lader, min bamse". Ja, was würde ICH mitnehmen? Das ist schwer zu beantworten.

Nachdenklich fahren die meisten von uns nach Hause. Ich wünsche mir, dass unser Ausflug dazu beigetragen hat, den Fokus auf den einzelnen Menschen zu richten und nicht die Flüchtlinge, die Dänen, die Syrer, die Ukrainer oder die Deutschen pauschal zu beurteilen und zu überlegen, wie wir unsere globalen Mitbürger aufnehmen, die gezwungen sind zu flüchten.

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