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66 Jahre Tempo 50 – Wie die Geschichte des Tempolimits in Schleswig-Holstein begann

66 Jahre Tempo 50 – Wie die Geschichte des Tempolimits in SH begann

Tempo 50 – Wie die Geschichte des Tempolimits begann

Götz Bonsen/shz.de
Kiel
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Rostig und alt: Schleswig-Holstein war bei der Entwicklung von Tempolimits Vorreiter. Foto: imago images/imagebroker/shz.de

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Der Streit um Tempo-Grenzen ist so alt wie das Automobil selbst. Bis vor 66 Jahren durfte man noch mit mehr als 150 km/h durchs Dorf rasen.

In allen Industrieländern der Welt herrschen Tempolimits auf Autobahnen. Deutschland geht in dieser Streitfrage einen nationalen Sonderweg. Erste Geschwindigkeitsbeschränkungen gingen hierzulande interessanterweise von der Provinz Schleswig-Holstein aus.

Dies ist ein bildhafter Rückblick auf 66 Jahre Tempo 50 in Ortschaften.

1900 bis 1909

Der motorisierte Individualverkehr ist noch eine Reichendomäne, doch die Unfallwahrscheinlichkeit steigt mit dem Aufkommen der lärmenden „Stinkkisten“ vor allem durch Rücksichtslosigkeit und schlechte Bremsen rasant an. Es gibt schon Auto-Modelle, die 100 km/h erreichen, aber hohes Tempo gibt es nur auf Rennstrecken.

Der Kaiserstaat sieht sein Eingreifen als Gesetzgeber offiziell als „noch verzichtbar“ an und lässt in der Verkehrssicherheit das Subsidarprinzip gelten. Die Regelungen obliegen den Provinzen, Ministerialerlassen und Verordnungen.

Allein Schleswig-Holstein wartet ab 26. Januar 1906 mit den ersten vorgeschrieben Verkehrszeichen des Kaiserreichs auf. Mit den gelben Tafeln „Kraftwagen Verboten“, „Kraftwagen Schritt“ und „Kraftwagen Vorsicht“ gibt es hier bereits moderne und richtungweisende Verbots-, Gebots-, und Warnschilder.

Am 6. September 1906 wird eine Polizei-Verordnung zum Kfz-Verkehr mit Kraftfahrzeugen erlassen, die das Aufstellen von Geschwindigkeitstafeln ermöglicht. Der Staat kassiert erstmals die Kfz-Steuer – zum Wohle der kaiserlichen Flotte.

Der erste Führerschein(-entzug)

Bei der Markierung von Gefahrenstellen im Reichsgebiet übernehmen vor allem die Automobilclubs die Initiative und die Kosten. Kaiser Wilhelms vereinheitlichender Erlass von 1908 sieht erstmals sieben einheitliche Warnungstafeln vor, die überall im Reich gelten.

Am 3. Mai 1909 wird über das „Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“ eine für ganz Deutschland geltende Fahrerlaubnis eingeführt, deren Entzug und Nichterteilung fortan ein beliebtes Mittel der Verkehrserziehung wird.

1910-1919: 15 km/h innerorts

Mit der ersten Novelle der Automobilverkehrsordnung vom 3. Februar 1910 kommen blaue, rechteckige Tafeln für Geschwindigkeitsbegrenzungen auf. „Kraftfahrzeuge 15 km“, heißt es da. Sie verpflichten Fahrzeuglenker zuallererst zu einer unfallvermeidenden Fahrweise.

Es gilt seinerzeit Tempo 15 als Maximalgeschwindigkeit in Orten. Lastenwagen über 5,5 Tonnen und ohne Gummibereifung dürfen innerorts gar nur zwölf Stundenkilometer fahren, außerorts 16. Schnellere Gangarten waren bei den Wegen auch kaum möglich.

In Hamburg und Lübeck gibt es im Jahr 1905 Beschränkungen, die für motorisierte Fahrzeuge bei 5 km/h liegen. Ab 1910 stellen die Behörden vieler deutscher Städte auf Tempo 20 um. Potsdam lässt 1911 in einigen Bezirken erstmals 25 km/h zu.

Die Roaring 20s

1922 werden in Hamburg und Paris die ersten elektrischen Verkehrsampeln Europas eingeführt. Die Reichsverordnung vom 1. März 1923 erlaubt innerorts eine maximale Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde.

Über die höhere Verwaltungsbehörde können die Limits stellenweise auf 40 km/h erhöht werden. Lkw über 5,5 Tonnen dürfen Ortschaften in der Regel mit bis zu 25 km/h passieren.

Neue Warnschilder bekommt das Land

Mit der „Verordnung über Warnungstafeln für den Kraftfahrzeugverkehr“ vom 8. Juli 1927 werden dreieckige Warnschilder in den Farben Rot-Weiß im gesamten Deutschen Reich an Gefahrenstellen angebracht. Die Automobilklubs entwerfen weiterhin eigene Warntafeln und kümmern sich um Wegeschilder.

6. August 1932: Die erste Autobahn erlaubt 120

In Wahrheit steht nicht Adolf Hitler, sondern der Kölner Bürgermeister Konrad Adenauer hinter der ersten Autobahn. Der spätere Nachkriegskanzler eröffnet die 20 Kilometer lange BAB 555 von Köln nach Bonn am 6. August 1932.

Die verblüffend durchdachte Fahrbahn erlaubt 120 Stundenkilometer – obwohl die Autos im Durchschnitt nur die 60 schaffen, die inzwischen in Orten zulässig sind. Bevor Hitler kurz nach der Machtergreifung den Spatenstich zur „ersten“ deutschen Autobahn übernimmt, wird er Adenauers Werk zur Landstraße degradieren.

Die Nazis stellen früh das Auto in den absoluten Vordergrund ihrer Mobilitätsideologie, andere Verkehrsmittel wurden marginalisiert.

Ab 1934: Jahre ohne Tempolimit

Die Reichsstraßenverkehrsordnung von 1934 macht zwei Jahre vor Olympia in Berlin Platz für das Automobil, dem die Straßen nun allein gehören sollen. Rechts vor Links gilt nur noch für Kfz.

Im selben Atemzug heben die Nazis jedwede Geschwindigkeitsbeschränkung auf – ob Stadt oder Land. Das hat Folgen: 1936 gibt es 8388 Verkehrstote bei knapp 2,4 Millionen zugelassenen motorisierten Fahrzeugen (2022: ca. 2770 Verkehrstote bei ca. 66,9 Millionen zugelassenen Fahrzeugen).

Zu Kriegsbeginn – und damit dem Start der ersten Ölkrise – ändert sich der Kurs der Nazis wieder. Der Wehrmacht soll nicht der rare Kraftstoff ausgehen, deshalb gelten fortan 40 km/h in der Stadt; außerhalb der Orte 80 km/h für Pkw.

Die Drangsalierung gilt auch für die neuen Autobahnen. Lastwagen und Busse dürfen 60 fahren. Da Privatfahrten sowie Fahrzeugbau während der Kriegsjahre kaum noch zulässig sind und die Zahl der Autos rapide sinkt, sind nur wenige betroffen.

Ab 1943 dürfen sogar Radfahrer die bis auf militärischen Verkehr entleerten Autobahnen benutzen.

Die 1950er: Mit dem Bleifuß durch das Wirtschafswunder

In Westdeutschland nimmt das Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren Fahrt auf, und das Auto bohrt sich als Statussymbol durch die von Schutt und Gassen entkernten Städte. Der Puls des Aufschwungs duldet kein Limit.

So hebt der Bundestag Ende 1952 das Gesetz von 1939 auf: Damit fällt der Hemmschuh. Es gibt keine offizielle Beschränkung mehr, weder in Stadt und Dorf noch über Land. Nur die geltende Straßenverkehrsordnung bildet mit ihrer Einforderung, dass der Fahrzeugführer sein Vehikel jederzeit anhalten können muss, ein Art virtuelle Feder am Gaspedal.

Verkehrstote werden Alltag

Diese Aufhebung der Limits kann heute als eine der tödlichsten Nachkriegsgesetzgebungen gezeichnet werden. In den fünfziger Jahren sterben allein in Westdeutschland jeden Tag durchschnittlich 18 Menschen im rapide wachsenden Straßenverkehr.

Nirgendwo sonst in Europa gibt es so viele Verkehrstote zu dieser Zeit. Die Briefe, die in dieser Zeit beim Bundesverkehrsminister eingehen, haben es in sich.

Mütter klagen den Tod ihrer Kinder an, die beim Spielen von Autos überfahren werden. Andere schreiben vom „Massenmord auf Deutschlands Straßen“. Viele jedoch bleiben – angeführt vom ADAC und einigen Leitmedien wie der FAZ – der Meinung, Geschwindigkeitsregeln seien überflüssig.

1957: Nur noch 50 km/h in Ortschaften

Mitte der fünfziger Jahre sind immer mehr Deutsche in immer schnelleren Autos unterwegs. Die Politik gerät unter Zugzwang. 1953 führt Bonn die Tachopflicht für neue Busse und Lkw ein, die erste Promillegrenze geht einher (Fahruntüchtigkeit ab 1,5 (!) Promille).

Und vor knapp 66 Jahren, am 1. September 1957, kommt es dann nach einer heftigen Debatte zur Einführung der „geschlossenen Ortschaften“, in denen Tempo 50 gilt.

In Stuttgart halbiert sich 1957 binnen weniger Wochen die Zahl der Verkehrstoten. Doch die Zahl der Opfer – vor allem der nichtmotorisierten – nimmt bundesweit weiter zu. Insbesondere Schulkinder sind betroffen. Die Debatte um Tempo 30 innerorts kommt seitdem nicht zur Ruhe.

Radarfallen ab 1959

Das Desaster auf den Straßen und die neuen Regelungen verlangen nach technischen Lösungen. Ab 1959 stellen Polizeibeamte das Verkehrsradargerät VRG 2 der Firma Telefunken auf. Der Heckblitzer wird in den kommenden Jahren zum Schrecken der deutschen Raser.

1958: Flensburg wird zum Symbol der Verkehrssünde

Auch bürokratisch geht die BRD neue Wege. Das Verkehrszentralregister in Flensburg (heute: Kraftfahrtbundesamt) beginnt 1958 mit der Sanktionierung von Temposündern.

Ab 1961 kümmert man sich an der Förde um Mehrfachtäter, das präventive „Punktesystem“ wird 1974 eingeführt und 2014 neu definiert.

1972: Tempo 100 auf Landstraßen

1970 gibt es in Westdeutschland rund 17 Millionen zugelassene Fahrzeuge, 19.193 Verkehrstote und 531.795 Verletzte. Erst 1972 kommt als Großversuch das schließlich bleibende 100-km/h-Limit für Landstraßen, bis dorthin gab es keine Begrenzung.

1973: Die Ölkrise bremst auf 80 runter

Ab dem 24. November 1973 gilt für 111 Tage 100 km/h auf Autobahnen und Tempo 80 außerorts, denn es herrscht die Ölkrise.

Während des Tempolimits gibt es deutlich weniger Unfälle, doch die meisten wollen schnell wieder davon loskommen. Der aus Plön stammende damalige Bundesverkehrsminister Lauritz Lauritzen (SPD) nimmt diese Zahlen allerdings ernst. Sein Argument für das Tempolimit: „Es geht um Menschenleben“.

Die Auto-Lobby macht mobil gegen Tempolimit

Der ADAC beschimpft Minister Lauritzen als „Trittbrettfahrer der Energiekrise“ und verteilt mehr als eine Million Aufkleber mit der Aufschrift: „Freie Bürger brauchen freie Fahrt“.

Der Automobilclub verkauft das Rasen als Menschenrecht und vereint eine Mehrheit hinter sich. Aus dem Limit wird nichts. Lauritzen erreicht lediglich, dass 130 km/h 1974 zur Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen wird.

Der Holsteiner Laurenz Lauritzen wird Vater der Richtgeschwindigkeit.

Mit mehr Technik zu mehr Vollgas

Rettungshubschrauber, Warndreiecke, Sicherheitsgurte, Kopfstützen, Notfallambulanzen: Es sind neben der aufkommenden Verkehrspädagogik und besseren Straßen vor allem technische Dinge, die in den 1970ern den viel zitierten „Massenmord“ knacken sollen.

Vor allem gegen die Anschnallpflicht (gilt seit 1976, Bußgeld seit 1984) gibt es enorme Vorbehalte. Und das Tempolimit bekommt trotz der um sich greifenden Umweltschutzgedanken keine Umarmung mehr.

1984 ergibt eine Berechnung des Bundesamtes für Straßenwesen (Bast), dass eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/h auf Autobahnen die Zahl der Getöteten um 20 Prozent vermindern könnte, bei 100 Kilometer pro Stunde sogar um 37 Prozent.

Doch das Thema ist aus dem Diskurs. Seit 1993 werden nicht einmal mehr die Geschwindigkeiten auf den Autobahnen erfasst.

Tempolimit 120

2007 werden gleich mehrere Anträge für ein Tempolimit auf Autobahnen im Bundestag eingereicht. Sie werden abgelehnt. Deutschland bleibt das einzige Industrieland ohne Geschwindigkeits-Begrenzung.

Dass Autos eine eingebaute Höchstgeschwindigkeit von 162 km/h bekommen sollen, fordert im selben Jahr der britische EU-Parlamentarier Chris Davies.  

2022: Speed-Limiter wird Pflicht

Knapp die Hälfte der im Straßenverkehr tödlich Verunglückten sterben in Deutschland an unangepasster Geschwindigkeit. Seit 6. Juli 2022 regelt eine EU-Verordnung, dass Neuwagen mit dem intelligenten Geschwindigkeitsassistenzsystem (ISA), einem so genannten Speed-Limiter, ausgestattet werden müssen.

Es handelt sich um Assistenzsysteme, die über Kameras und Sensoren messen, ob ein Fahrer die zulässige Geschwindigkeit überschritten hat. Die Fahrzeugführer wird zum Beispiel über elektronische Impulse oder über einen erzeugten Gegendruck des Gaspedals auf sein Vergehen hingewiesen.

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