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Analyse: Cem Özdemir führt die Grünen ins nächste Schlamassel

Analyse: Cem Özdemir führt die Grünen ins nächste Schlamassel

Analyse: Özdemir führt die Grünen ins nächste Schlamassel

Simone Schnase/shz.de
Kiel
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Cem Oezdemir (Grüne), Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung, will die Bestrafung für das Containern eingrenzen. Kein neuer Vorschlag. Foto: www.imago-images.de

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Mit ihrer neuen Klimapolitik und nicht zuletzt in Lützerath haben die Grünen viele ihrer Stammwähler verloren. Ernährungsminister Cem Özdemir versucht die Grünen-Anhänger nun mit einem anderen Kernthema der Partei zurückzugewinnen.

Die Grünen sind ganz sicher die Ampel-Partei, die durch den Ukraine-Krieg die größte Abkehr vom eigenen Programm vollziehen musste. In weiten Teilen stießen sie auf Verständnis, denn die Menschen wissen: Besondere Zeiten erfordern viele Kompromisse, auch wenn sie bitter sind.

Dass sich der ehemals so beliebte Umweltminister Robert Habeck und weite Teile seiner Partei nun allerdings hinter die RWE-Pläne gestellt haben, unter dem Örtchen Lützerath Braunkohle abzubauen, ist für sehr viele noch so wohlwollende Grünen-Wähler nicht mehr verzeihlich.

Grüne wollen mit Legalisierung des Containers zeichen setzen

Es scheint deswegen kein Zufall zu sein, dass der grüne Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ausgerechnet einen Tag vor Beginn der Räumung Lützeraths und kurz vor den Neuwahlen in Berlin öffentlichkeitswirksam angekündigt hat, das „Containern“ legalisieren zu wollen.

Denn das Thema Lebensmittelverschwendung und Nachhaltigkeit ist eines, das vor allem junge Umwelt- und Klimaaktivisten – also genau jene, die in Lützerath protestiert und sich mittlerweile massenhaft enttäuscht von den Grünen abgewendet haben – bereits seit Jahren immer wieder aufs Parkett bringen: Anfang Februar 2022 haben Aktivisten über Wochen bundesweit Straßen blockiert, um gegen die straflose Verschwendung von Lebensmitteln in Deutschland zu protestieren. Das war ein deutliches Zeichen in Richtung der noch jungen Ampelkoalition.

Was Cem Özdemir nun gemeinsam mit Justizminister Marco Buschmann (FDP) angekündigt hat, mutet ein wenig so an, als wolle er hier das Signal aussenden: Wir haben Euch nicht vergessen, trotz des Desasters von Lützerath.

Özdemirs Vorschlag zum Containern enthält nichts Neues

Dabei haben Özdemir und Buschmann überhaupt nichts Neues erzählt: Denn bereits als Reaktion auf die Proteste vor fast einem Jahr kündigte der Agrarminister an, das „Containern“ legalisieren zu wollen – also das Herausfischen noch brauchbarer Lebensmittel aus den Abfallbehältern der Supermärkte.

Özdemirs Vorstoß stieß zu Recht auf Kritik, weil der Minister damit nicht die Verursacher des essbaren Abfalls in die Pflicht nahm. Jedes Jahr deklariert der Einzelhandel in Deutschland rund 500.000 Tonnen Lebensmittel als Abfall – das entspricht ungefähr 20.000 großen Lkw-Ladungen. Ein Teil davon wird durch die Lebensmittelhändler freiwillig zum Beispiel an die Tafeln gespendet, aber das meiste, nämlich ungefähr 70 Prozent, wandert in den Müll. Daran wird sich auch künftig nichts ändern.

Blick ins Ausland zeigt, wie mit Lebensmittelverschwendung umzugehen wäre

Dabei machen andere Länder vor, wie es gehen kann: Frankreich hat seinen Supermärkten 2016 gesetzlich verboten, noch genießbare Lebensmittel wegzuwerfen. Die Geschäfte müssen alle nicht verkauften Lebensmittel entweder für wohltätige Zwecke spenden oder als Tierfutter oder Kompost der Landwirtschaft zur Verfügung stellen.

In Tschechien müssen seit fünf Jahren Lebensmittelgeschäfte mit einer Verkaufsfläche von mehr als 400 Quadratmetern unverkäufliche Waren an wohltätige Organisationen spenden und Italien gewährt jenen Geschäften Steuererleichterungen, die ihre Waren spenden statt wegzuschmeißen.

Özdemir will Containern gar nicht entkriminalisieren

In Deutschland hingegen soll das Problem offensichtlich dadurch gelöst werden, dass Privatpersonen, die im Müll wühlen, um Lebensmittel zu „retten“, entkriminalisiert werden. Dieser Weg ist nicht nur ein Freibrief für den Lebensmittelhandel, sondern überdies völlig unausgegoren.

Denn Özdemir und Buschmann planen keineswegs, das „Containern“ auf Bundesebene zu legalisieren, sondern sie unterstützen lediglich den Vorschlag von Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne). Danach sollen die Staatsanwaltschaften Strafverfahren aufgrund des „Containerns“ wegen Geringfügigkeit einstellen, wenn sie weder mit Sachbeschädigung noch mit Hausfriedensbruch einhergegangen sind.

Die anderen Bundesländer sollen dem Hamburger Vorstoß nach dem Willen der beiden Minister folgen. Unter ihnen muss aber Konsens über das Thema herrschen, damit eine für die Staatsanwaltschaften verbindliche Vorschrift überhaupt erlassen werden kann.

Bund setzt auf Länder – und die kritisieren Özdemirs Vorstoß

Das kann dauern – wenn es denn überhaupt jemals so weit kommt: „Leuten zu ermöglichen, in Containern nach Lebensmitteln zu wühlen, kann nicht unsere Antwort auf die großen Fragen der Lebensmittelverschwendung sein“, kritisierte zu Recht die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges (CDU) den Vorstoß.

Es wäre weitaus unkomplizierter und auch erfolgversprechender, auf Bundesebene einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das Containern entkriminalisiert, aber das haben Özdemir und Buschmann nicht vor. Ohnehin bleibt im Dunklen, welche gravierenden Veränderungen ihr öffentlichkeitswirksames Vorhaben nach sich ziehen soll.

Mit diesem Vorstoß schadet Özdemir den Grünen

Denn selbst wenn sich die Länder einig würden, bliebe das Containern laut dem Hamburger Vorstoß in den allermeisten Fällen noch immer strafbar. Und zwar in den Fällen, in denen ein Hausfriedensbuch vorliegt, „der über die Überwindung eines physischen Hindernisses ohne Entfaltung eines wesentlichen Aufwands hinausgeht“ oder „den Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllt“.

Da die allermeisten Supermärkte ihre Abfallcontainer nicht offen stehen lassen, sondern hinter Zäunen versteckt und vielfach auch abgeschlossen halten, würde sich für die Mehrheit der Lebensmittelretter also rechtlich rein gar nichts ändern.

All das wissen jene Menschen, die sich dem Kampf gegen Lebensmittelverschwendung verschrieben haben, ganz genau. Dass Özdemir sein weitestgehend sinnloses Vorhaben ohne jegliche Nachbesserung jetzt erneut aufs Parkett bringt, treibt sie nicht in die Arme der Grünen zurück. Im Gegenteil: Es bestätigt sie lediglich einmal mehr in ihrer Enttäuschung über eine Partei, von der sie sich in Sachen Klima- und Umweltschutz noch vor einem Jahr so viel versprochen hatten.

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