Bundestagswahl 2021

Annalena im Robert-Land

Annalena im Robert-Land

Annalena im Robert-Land

SHZ
Pinneberg
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Fast messiashaft wirkt die Geste, geerdeter aber die Rede von Annalena Baerbock bei ihrem ersten Auftritt als Kanzlerkandidatin in Schleswig-Holstein auf dem Drosteiplatz in Pinneberg. Foto: Marcus Dewanger/shz.de

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Bei ihrem ersten Auftritt als Kanzlerkandidatin im Norden versucht die Grüne auch jenseits der Klimadebatte zu punkten

Sie kommt fast ein bisschen heimlich. Andere Parteien kündigen den Auftritt ihrer Kanzlerkandidaten im Wahlkampf mit großem Getöse und viel Musik an – bei den Grünen auf dem Drosteiplatz in Pinneberg gibt es für Annalena Baerbock nur einen kleinen Bongo-Trommelwirbel. Die Spitzenkandidatin der Grünen streckt den rund 300 Besuchern von der Bühne aus die Arme entgegen und sagt gleich mal, worauf es ihr bei der Bundestagswahl ankommt: „Wie wollen wir als Gesellschaft eigentlich sein?“

Start mit einer nachdenklichen Frage

Kein Schlagwort, keine Worthülse ruft sie über die grüne Wiese, um die Menschen mitzureißen, sondern eine Frage. Vielleicht ist das auch das Neue des Wahlkampfes der ersten Kanzlerkandidaten der Grünen bei ihrem ersten Auftritt in Schleswig-Holstein. Denn danach wird die 40-Jährige nur noch einmal in Kiel zu Gast sein und versuchen, eine Trendumkehr zu schaffen.

Neu, frisch, anders – so will Baerbock sein. Doch seit ihr Co-Parteichef Robert Habeck sie am 19. April zur Kanzlerkandidatin vorgeschlagen hat, ist der Wurm drin in der Grünen-Kampagne. Nach der jüngsten Forsa-Umfrage käme die Partei bei der Bundestagswahl nur noch auf 20 Prozent der Stimmen – und läge damit nur einen Prozentpunkt vor der SPD und deren Kanzlerkandidat Olaf Scholz, die noch vor Wochen deutlicher hinter den Grünen lagen.


Doch Scholz hat beim Wähler gepunktet, vielleicht auch einfach, indem er nur so geblieben ist, wie er immer schon war: zuverlässig, leise und erfahren. Könnten die Deutschen Scholz direkt wählen, würden sich laut Umfrage 26 Prozent für den spröden Sozialdemokraten entscheiden. Unions-Kandidat Armin Laschet käme nur auf enttäuschende 12 Prozent. Aber auch Annalena Baerbock kann mit den aktuellen 16 Prozent nicht wirklich zufrieden sein.

Sie weiß auch, dass es nicht nur daran liegen kann, dass in ihrem Buch Passagen stehen, die schon mal irgendjemand anders irgendwo aufgeschrieben hat. Und auch ein geschönter – oder besser übertrieben geschilderter – Lebenslauf wird nicht der Grund dafür sein, dass die Grünen in den Umfragen immer weiter abgesackt sind. Nur zur Erinnerung: Direkt nach Baerbocks Nominierung lagen die Grünen Ende April bei 28 Prozent, die Union bei 22 und die SPD bei 13. Doch die Bundestagswahl ist erst in sechs Wochen – und viele Wähler entscheiden sich erst kurz vor dem Urnengang. Und darauf setzen die Grünen, deren Kandidatin in Pinneberg nicht nur die eigenen Anhänger für den Wahlkampf begeistern, sondern auch Wechselwähler gewinnen will.

Kandidatin voller Selbstbewusstsein

Dass Baerbock fest an sich glaubt und Kanzlerin werden will, das macht sie an diesem sonnigen Nachmittag auf dem Drosteiplatz deutlich – auch wenn sie das nie direkt sagt. „Diese Wahl ist offen wie kaum eine zuvor“, hört man stattdessen von Baerbock. Es gehe um Klimagerechtigkeit – ein Begriff, der immer wieder fällt und zeigen soll, dass die Grünen den Klimaschutz sozial gerecht ausgestalten wollen.

Mancher wird sich fragen, wie wohl ein Robert Habeck so einen Auftritt gemeistert hätte. Der Fast-Kanzlerkandidat absolviert in dieser Woche eine Menge Termine in seinem Heimatland Schleswig-Holstein, aber die großen Bühnen bespielt die Kanzlerkandidatin. Trotzdem wissen die Grünen im Norden, dass sie mit Habeck ein Zugpferd im Wahlkampf haben. „Robert ist der, der auch nochmal die fünf Prozent extra an Stimmen holen kann, die es am Ende vielleicht braucht, um vor der Union zu liegen“, sagt einer, der sich gut bei den Grünen im Norden auskennt.

Robert Habeck erwähnt sie nicht

In der Tat ist Habeck eher derjenige, der auch Menschen anspricht, die nicht primär den Grünen zugetan sind. Das ist bei Baerbock anders, der innerhalb der Grünen Organisation zwar in den vergangenen Monaten die Herzen zugeflogen sind – aber deren Funke eben nicht so leicht auf nicht-grüne Milieus überspringen will. Und manch einer wird sich fragen, ob es so geschickt war, eine Frau zu nominieren, wo doch alle Untersuchungen von jüngeren Wahlen zeigen, dass die grüne Wählerschaft ohnehin weiblicher ist als die anderer Parteien. „Mit ihr wird es schwerer Wechselwähler zu gewinnen als mit Robert“, sagt eine Grüne.


Baerbock setzt auf den Faktor des Neuen. Ihren Co-Vorsitzenden nennt sie nicht in ihrer Rede, überhaupt keine anderen Personen – auch ihre Konkurrenten aus den anderen Parteien nicht. Annalena Baerbock will für sich allein stehen. Immer wieder breitet sie die Arme aus – nicht um die Menschen symbolisch zu umarmen, sondern um Dynamik zu zeigen. Sie wirkt frisch, kämpferisch, aber nicht verbissen. Das Publikum spendet nie donnernden, aber immer wieder freundlichen Applaus. Euphorie sieht jedenfalls anders aus. „Ich weiß auch nicht, was die anders machen will“, sagt ein Besucher, der etwas weiter hinten steht.

Baerbock hat eine Erzählung

Es ist das Dilemma aller drei Kanzlerkandidaten, dass sie vor allem von der Basis der eigenen Partei geschätzt werden. Bei Bundestagswahlen hat sich aber in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass eher die erfolgreich sind, die auch in der eigenen Partei umstrittene Positionen vertreten. Nicht zuletzt war das ein Erfolgsgeheimnis von Angela Merkel, aber auch die Sozialdemokraten Gerhard Schröder und Helmut Schmidt eckten zwar immer wieder in der eigenen Organisation an, sammelten dafür aber Punkte bei Wählern, die ihrer Partei sonst eher ferner standen.

Immerhin: Im Gegensatz zu den anderen beiden Kanzlerkandidaten hat Annalena Baerbock eine Erzählung, einen roten Faden, der sich durch ihre Kampagne zieht. Bei den Grünen wissen die Wähler sofort, warum sie die Partei wählen sollen. „Wir werden die Klimakrise nicht komplett verhindern können“, sagt die Kandidatin. „Aber wir können nicht länger warten, etwas dagegen zu tun, denn der Klimawandel gefährdet die Sicherheit von uns hier.“


Ein älterer Mann in den hinteren Reihen sagt nur: „Stimmt.“ Und zu seiner Frau: „Wenn ich die wähle, kann ich wohl nicht viel falsch machen.“

Dass die Grünen vor allem auf ein Thema festgenagelt werden, ist für die Partei Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite haben sie eine Mehrheit der Wähler hinter sich, die wissen, dass der Mensch dem Klimawandel etwas entgegen setzen muss. Auf der anderen Seite stehen die anderen Parteien eher dafür, nicht alles dem Klimaschutz unterzuordnen.

Klima ist nicht alles

Baerbock weiß das natürlich auch. Vielleicht hält sie auch deswegen fast weniger eine Klimaschutz- denn eine sozialpolitische Rede. Die Schuldenbremse müsse „erweitert“ werden, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern, für Pflegeberufe solle die 35 Stunden-Woche eingeführt werden, fordert sie. Und wenn sie davon spricht, dass ihre Tochter gerade in die Schule gekommen ist und sie will, dass alle Kinder einen Schulranzen und eine Schultüte bekommen und deswegen für eine Erhöhung der Kindergrundsicherung plädiert – dann menschelt es in Pinneberg. Und Baerbock kann als Mutter, die weiß wie die Sorgen des Alltags sind, Stärken ausspielen, die ihre Gegenkandidaten so nicht haben.


Am Ende könnte Baerbock mit einem flotten Spruch, begleitet von starker Musik die Bühne verlassen und in den bereitstehenden Wahlkampfbus springen – aber sie bleibt, macht Fotos mit den Mitarbeitern der Grünen, während die meisten Gäste schon den Drosteiplatz verlassen. Andere Parteien hätten das vielleicht professioneller durchchoreografiert, aber bei der Grünen wirkt das irgendwie authentisch – wie schon ihre fast heimliche Anfahrt. Doch bevor Annalena Baerbock wieder abfährt, beantwortet die Kanzlerkandidatin noch einige Fragen aus dem Publikum. Ein Gast will wissen, wie man kurzfristig Denkende von den jetzt wichtigen Schritten überzeugen kann. Baerbock überlegt kurz, weil die Frage doch an ihre Eingangsfrage anschließt, die sie selbst gestellt hat. Dann antwortet sie: „Wir müssen uns verändern, um das zu erhalten, was uns wichtig ist.“ Und dann breitet sie standardmäßig messiashaft die Arme aus und ruft: „Wir müssen jetzt handeln, um unseren Kindern in 30 Jahren erklären zu können, was wir getan haben – und nicht, warum wir nichts getan haben.“ Und für diesen Satz bekommt Baerbock dann auch den meisten Applaus.

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