Messerattacke

Brokstedt: Es hätte eine Weiche gegeben, die Katastrophe zu verhindern

Brokstedt: Es hätte eine Weiche gegeben, die Katastrophe zu verhindern

Brokstedt: Die Katastrophe wäre zu verhindern gewesen

Eckard Gehm/shz.de
Brokstedt
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Der Abend der Bluttat von Brokstedt: Beamte sicher Spuren auf dem Bahnsteig, wo Ibrahim A. festgenommen wurde. Foto: Jonas Walzberg/shz.de

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Vor dem Messerangriff von Brokstedt wusste jede Behörde etwas über den mutmaßlichen Täter, aber keine wusste alles. Das ist der Grund dafür, warum niemand die Gefährlichkeit von Ibrahim A. richtig einschätzte. Was jetzt passieren muss.

Bereits am Tag nach der schrecklichen Bluttat im Regionalexpress von Kiel nach Hamburg berichtete Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) über den Lebensweg und die Straftaten von Ibrahim A. (33). Und die Kieler Ausländerbehörde veröffentlichte auf gleich drei Seiten detailliert ihr Wissen über ihn.

Das ist die bittere Erkenntnis dieses Falles: Über Ibrahim A. war viel bekannt, doch vor der Tat war dieses Wissen fragmentiert, teilweise fixierten sich Behörden allein auf ihre Zuständigkeiten oder die Kooperation scheiterte an Formalien, weshalb in Momenten der Entscheidung wichtige Informationen fehlten, geschweige denn ein Gesamtüberblick möglich war.

Bamf sieben Jahre im Blindflug

Das wohl eindrücklichste Beispiel für einen Blindflug lieferte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), das sieben Jahre nach der Einreise von Ibrahim A. erstmals von seinen Straftaten erfuhr. Es leitete ein Widerrufsverfahren zu dessen subsidiärem Schutz ein und scheiterte kläglich. Weil die Briefe, die Ibrahim A. rechtliches Gehör verschaffen sollten, als unzustellbar zurückkamen.

Personal für Entzug von Schutztiteln drastisch reduziert

Anstatt aktiv zu werden und sich Gedanken zu machen, wie Ibrahim A. aufgespürt werden könnte, ruhte seine Akte bis zur Bluttat von Brokstedt.

Die Sachbearbeiter deswegen zu verurteilen, wäre vorschnell. Im Bamf wurde das Personal für den Entzug von Schutztiteln nämlich drastisch reduziert. Waren Anfang 2020 noch 830 Mitarbeiter mit den Widerrufsverfahren beschäftigt, waren es ein Jahr später nur noch 520, Anfang 2022 nur noch 202 und aktuell sind es 112. Grund ist die Reform der Ampel-Regierung, die auf die bisherige Regelüberprüfung verzichtet. Künftig soll nur noch anlassbezogen, also etwa bei Hinweisen auf Straftaten, geprüft werden.

Die quälende Frage, ob der Messerangriff hätte verhindert werden können, bleibt, denn die Antwort lautet: sehr wahrscheinlich, ja. Wenn die Hamburger Justiz, die Kieler Ausländerbehörde und das Bamf immer dann, wenn sie keine Antworten voneinander erhielten, mal zum Telefon gegriffen hätten.

Dem Bamf wäre es dann möglich gewesen, Ibrahim A. während seiner Haft in der JVA Billwerder rechtliches Gehör zu geben. Und ja, auch seine Aufenthaltsbescheinigung hätte Kiel während der einjährigen Haftzeit verlängern können. Doch von der U-Haft wusste die Ausländerbehörde formal nichts. Sie sei aus dem Mailverkehr zu erahnen gewesen, sagt deren Chef Christian Zierau. Aber sie war eben nicht offiziell gemeldet. Und diese Meldung sei eine „Bringschuld, keine Holschuld“.

Es hätte eine einfache Weiche gegeben, die Katastrophe zu verhindern

Dabei wäre dieser Moment, die einfachste Weiche gewesen, die Katastrophe zu verhindern. Hamburgs Justizstaatsrat Holger Schatz erklärte, es habe am 22. November 2022 die Mitteilung aus Kiel gegeben, Ibrahim A. möge nach seiner Entlassung nach Kiel fahren, um die Bescheinigung zu verlängern. Kiel erwidert, dieser Kontakt sei nicht bekannt.

Und so fuhr Ibrahim A. sechs Tage nach seiner Entlassung ohne Voranmeldung nach Kiel und traf auf entsprechend unvorbereitete Mitarbeiter, die ihm erklärten, wegen seiner Obdachlosigkeit sei eine Verlängerung nicht sofort möglich. Es folgte die Bluttat auf der Rückfahrt.

Die Biografie von Ibrahim A. ähnelte der früherer Messerangreifer

In der Ebene jenseits des Behördenversagens steht die Politik, die es noch immer nicht geschafft hat, die Digitalisierung so voranzutreiben, dass ein länderübergreifender Datenaustausch zu Straftätern reibungslos läuft. Die Biografie von Ibrahim A. ähnelt der früherer Täter, die Menschen in der Öffentlichkeit mit Messern angegriffen oder getötet haben.

Sie waren als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, ohne Fuß fassen zu können. Ibrahim A. hatte keine Familie, lebte ohne Arbeit am Rande der Gesellschaft und sprach kaum Deutsch. Seine Affinität zu Messerdelikten war aktenkundig, seine psychischen Probleme waren es auch.

Niemand fragte, wozu Ibrahim A. fähig ist?

In seinem Fall waren alle Beteiligten für etwas zuständig – aber keiner für alles. Niemand fragte: Wer genau ist Ibrahim A. und wozu ist er fähig – und wäre es notwendig, die Bevölkerung vor ihm zu schützen? Die Politik muss entscheiden, ob das künftig so bleiben soll.

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