Vor 75 Jahren in Nordfriesland

Demokratin, Antifaschistin, Dänenfreundin: Als die Husumerin Ina Carstensen „Schulrat“ wurde

Demokratin, Antifaschistin, Dänenfreundin: Als Ina Carstensen „Schulrat“ wurde

Ina Carstensen: Demokratin, Antifaschistin, Dänenfreundin

SHZ
Husum/Flensburg
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Die Schulrätin Ina Carstensen bei der Arbeiten an ihrem Schreibtisch. Foto: Sammlung Siegfried Carstensen

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Die Husumerin Ina Carstensen setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg als erste Schulrätin für ein demokratisches Schulwesen ein.

Das Schulwesen Nordfrieslands lag am Boden in jener Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Schulen waren für Wochen und Monate geschlossen. Als dann der Unterricht wieder beginnen konnte, waren die Klassen überfüllt, häufig musste im Schichtbetrieb unterrichtet werden.

Das Wort Schulrätin gab es noch nicht

In diesem Chaos nach dem Krieg sollte eine Frau die Schulen im südlichen Nordfriesland wieder auf Kurs bringen: die Husumerin Ina Carstensen (1898-1985). Sie war im nördlichen Schleswig-Holstein die erste Frau, die als Schulrat wirkte – das Wort Schulrätin gab es noch gar nicht.

Mit 19 Jahren bereits Lehrerin

Ihre Mutter Emma Carstensen geb. Rienau (1870-1940) war Lehrerin gewesen, hatte ihren Beruf aber aufgrund des damals herrschenden Lehrerinnen-Zölibats aufgeben müssen. Nach der Einführung des Frauenwahlrechts wurde sie 1919 eine der beiden ersten weiblichen Stadtverordneten Husums.

Tochter Ina erhielt bereits mit 19 Jahren die „Lehrbefähigung für Lyzeen, Mittel- und Volksschulen“. Fortan wirkte sie an der Knaben-Bürgerschule in ihrer Heimatstadt Husum. In besonderer Weise bemühte sie sich um den Aufbau einer „gehobenen Reihe“, die begabten Kindern aus wirtschaftlich minderbemittelten Elternhäusern eine höhere Bildung ermöglichte.


Ihr Beruf wurde ihre Leidenschaft. Der erste Arbeitsvertrag vom Februar 1918 sah, wie bei ihrer Mutter, noch das Zölibat vor: Bei einer Heirat hätte sie nicht mehr als Lehrerin arbeiten dürfen. Diese Regelung wurde zwar 1919 in der Weimarer Republik aufgehoben, aber vier Jahre später dann doch wieder eingeführt – erst seit 1951 ist sie ganz abgeschafft. Ina Carstensen entschied sich für ihren Beruf und blieb ihr Leben lang unverheiratet.

Die Vorzüge der Demokratie

Als junges Mädchen schwärmte sie für das Kaiserreich mit seinem Glanz und Gloria, lernte aber dann die Vorzüge der Demokratie schätzen. Die Brutalität des Nationalsozialismus, die auch in Husum offen zu Tage trat, schreckte sie ab. Am 19. Juni 1934 wurden Husumer Freimaurer von einer pöbelnden und marodierenden Menge heimgesucht.

Schikanen aus dem Kollegium

Ina Carstensen vertraute ihrem Tagebuch an: „Nie werde ich diesen Tag vergessen! Und das tiefe Grauen, das er mir gebracht hat. Und nicht nur mir, sondern allen, die heute noch anständig denken in dieser Blütezeit der Schufte“, womit sie eine Zeile aus einem Gedicht des von ihr geliebten Dichters Theodor Storm zitierte. In ihrem Kollegium sah sie sich bald Schikanen ausgesetzt. Ihr Schulrat habe ihr sinngemäß gesagt, so schrieb sie ins Tagebuch: „Du bist erstens nur eine Frau und zweitens ein Mensch zweiter Klasse, weil politisch unzuverlässig.“

Carstensen im Entnazifizierungsausschuss

Nach dem Ende des Weltkriegs, von ihr als Befreiung erlebt, fehlte es am Nötigsten. Manche Schulen hatten als Lazarette oder zur Aufnahme von Soldaten gedient. Viele Lehrer, die sich dem Nationalsozialismus verschrieben hatten, durften zunächst nicht unterrichten. Die britische Besatzungsmacht berief Ina Carstensen in einen Entnazifizierungsausschuss.

Sie hatte so manchen Lehrer als fanatischen Nazi erlebt. Wenn sie einen ehrlichen Willen zur Umkehr erkannte, wollte sie aber die Möglichkeit eines Neuanfangs geben. Auch in den Kreis-Wohnungsausschuss wurde sie berufen. Ganz ähnlich wie ihre Mutter „einen Krieg zuvor“ musste sie sich mit den Folgen der „Kriege der Männer“ auseinandersetzen.


Im Oktober 1945 wurde ihr die Leitung der Husumer Mittelschule übertragen. Erst im Januar 1946 konnte der Unterricht dort wieder beginnen. Sie freute sich über ihre neue Aufgabe. Aber schon ein Vierteljahr danach wurde sie zum Regierungsschuldirektor gebeten, der ihr sagte: „Fräulein Carstensen, ich möchte Sie bitten, mir Ihre Zustimmung zu geben, dass Sie zum Schulrat der Kreise Husum und Eiderstedt ernannt werden.“ Unverheiratete Frauen wurden damals und noch für lange Zeit als „Fräulein“ angesprochen.

Eine demokratisches Schulwesen gestalten

Ihre neue Aufgabe, die Gestaltung eines demokratischen Schulwesens im südlichen Nordfriesland, übte sie ausgerechnet im früheren Büro des Nationalsozialistischen Lehrerbundes im Husumer Osterende aus. Zwei kleine Zimmer und eine geliehene Schreibmaschine standen dem Schulamt zur Verfügung. Sie war für 115 Schulen zuständig.

Ein unentwirrbar erscheinendes Knäuel an Problemen galt es zu lösen. Viel zu wenige Lehrkräfte standen zur Verfügung. Heizmaterial in den kalten Wintern jener Zeit war knapp. Viele Schulbücher strahlten den Geist der NS-Diktatur aus. Über manchen Lehrer, der als Flüchtling nach Nordfriesland gekommen war, fehlten alle Kenntnisse über seine Befähigung und seine politische Einstellung.

Carstensen benennt die Verantwortlichen

Im Verhältnis zu den vielen nach Nordfriesland gekommenen Flüchtlingen forderte Ina Carstensen zur Humanität auf. Bei einer ihrer ersten Dienstversammlungen als Schulrätin erklärte sie im Juni 1946: „Jeder muss lernen, die Eigenart des anderen zu achten – und gewähren zu lassen.“ Klar benannte sie die Verantwortlichen für die Misere: „Nicht allein, dass das blühende Schulwesen unserer Heimat äußerlich zerschlagen worden ist – viel schlimmer sieht es in den Herzen unserer Jugend aus. Wenn je das Wort gestimmt hat, dann hier: Das verdanken wir dem Führer.“

„Re-education“ hin zur Demokratie

Eine Schule der Demokratie war für sie ein siebenwöchiger Aufenthalt in der von Winston Churchill gegründeten Bildungsstätte Wilton Park bei London. Die Militärregierung hatte ihr dies ermöglicht, und sie sog die hier gebotenen pädagogischen und gesellschaftlichen Inspirationen geradezu in sich auf. Die Engländer wollten in Deutschland eine „Re-education“ hin zur Demokratie bewirken, und Ina Carstensen wirkte begeistert daran mit.

In größter Heftigkeit wurde der Gegensatz zwischen Deutsch- und Dänischgesinnten ausgetragen. Ina Carstensen versuchte beiden Seiten gerecht zu werden, was damals sehr ungewöhnlich war. Bei der Einweihung einer dänischen Schule in Eiderstedt erklärte sie, die Menschen sollten sich die Hände reichen über alles Trennende hinweg.

Der Ruf an die Flensburger Förde

Sogleich war sie im leidenschaftlich geführten Grenzkampf bei manchen als dänenfreundlich verschrien. In der Stadt Flensburg dagegen weckte ihre unabhängige Haltung Aufmerksamkeit. Trotz des Widerstands national-deutscher und konservativer Kräfte, die eine klare deutsche Position und außerdem einen Mann verlangten, erhielt sie im Frühjahr 1948 den Ruf in die Fördestadt. Bis zu ihrer Pensionierung 1962 war sie hier Schulrätin und erarbeitete sich großen Respekt. Eine Straße in Flensburg trägt ihren Namen. Im Ruhestand lebte sie wieder in ihrer geliebten Stadt Husum.

Ina Carstensen war verwurzelt in der friesischen Kultur. Sie schätzte sehr die Heimatforscher Dr. Lorenz Conrad Peters von der Insel Föhr und Dr. Goslar Carstens in Husum. Beide zählten 1948 zu den Gründern des Nordfriesischen Instituts, dem sie sich sogleich als Mitglied anschloss.

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Die größte Gefahr für die neue deutsche Demokratie war für sie das Wiedererstarken des Rechtsextremismus. Mit Schaudern sah sie, dass sehr bald ehemalige Nationalsozialisten wieder wichtige Ämter bekleideten, auch in Nordfriesland, und dass rechtsradikale Zeitungen hohe Auflagen erzielten. Im Juni 1964 schrieb sie ihrem Neffen Siegfried einen Brief, den er als „Inas politisches Testament“ auffasst. Ihre staatsbürgerliche Einstellung wird darin ganz deutlich: „Hast du mal Gelegenheit, nach Frankfurt zu fahren und dir eine Verhandlung im Auschwitz-Prozess anzuhören? Tu’s! Man muss das wissen! Es hat doch keinen Sinn, sich vor der Wahrheit zu verstecken.“

Ein Buch über zwei starke Frauen

Der in Husum lebende Soziologe Siegfried Carstensen hat über Emma und Ina Carstensen, seine Großmutter und Tante, ein eindrucksvolles Buch verfasst mit dem treffenden Untertitel „Zwei starke Frauen in Nordfriesland“. Es ist im Husum Verlag erschienen und umfasst 279 Seiten.

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