Lebensmittelverschwendung

Das kann man doch nicht wegwerfen!

Das kann man doch nicht wegwerfen!

Das kann man doch nicht wegwerfen!

Oliver Tobolewski-Zarina, Markus Keimel
Kiel
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Symbolfoto zum Thema Lebensmittelverschwendung mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Foto: Imago Stock&People/shz.de

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Zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jährlich im Müll. Mehr als die Hälfte wird nur von den Konsumenten weggeworfen. Sonja und Adrian Borowski wollen dem als Lebensmittelretter etwas entgegensetzen.

„Wir haben völlig verlernt, auf unsere Sinne zu achten“, sagt Sonja Borowski. Ob ein Joghurt noch genießbar ist, sieht man, riecht man und schmeckt man. Früher hatten sie und ihr Mann Adrian Borowski das Mindeshaltbarkeitsdatum (MHD) im Blick, heute essen sie auch Joghurts, die dieses Datum längst überschritten haben. Sie holen Lebensmittel von Supermärkten ab, die in der Tonne gelandet wären. Aus Idealismus, um nachhaltiger zu leben.

„Es ist unglaublich, was wir alle jeden Tag wegschmeißen“, sagt Adrian Borowski. Viele Lebensmittel landeten ohne Grund in der Tonne, seien noch genießbar. „Das ist eine Verschwendung von Ressourcen“, sagt Sonja Borowski – und dies, obwohl es auch in Deutschland Menschen gebe, die nicht ausreichend Essen auf dem Tisch hätten oder gar hungern müssten.

Ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel landen im Müll

In Deutschland landen pro Jahr rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Weltweit sind es sogar 1,3 Milliarden Tonnen. Das ist in Summe ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel. Damit geht eine enorme Verschwendung von Ressourcen wie Wasser, Energie, Arbeit oder Land einher.

Laut einer Rechnung des WWF bedeutet dies für Deutschland, dass jährlich rund 2,6 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche völlig zwecklos bewirtschaftet werden. Eine Fläche, die der Größe von Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland zusammen entspricht. Hinzu kommt, dass durch die Produktionskette von Lebensmitteln jährliche Treibhausgasemissionen in der Höhe von 18 Milliarden Tonnen CO2 entstehen.

Als Lebensmittelretter im Hamburger Speckgürtel

Sonja und Adrian Borowski wollen dem etwas entgegensetzen, wollen bewusster leben – auch wegen ihres Kindes. Sie sagen, wenn es eine Zukunft haben soll, dann müssten sie zwangsläufig nachhaltiger leben. Weshalb sich das Paar nicht nur im Umweltschutz engagiert, sondern auch seit sechs Jahren in der Initiative Foodsharing. Sonja und Adrian Borowski sind Lebensmittelretter, haben zusammen bereits mehr als zwei Dutzend Tonnen vor dem Müllcontainer bewahrt.

Drei Mal in der Woche ziehen sie los, fahren Supermärkte im Hamburger Speckgürtel an, die mit ihnen kooperieren. Es habe auch Zeiten gegeben, in denen sie bis zu fünf Mal in der Woche unterwegs gewesen sind. „Da sind wir an unsere Hobbygrenzen gekommen“, sagt Sonja Borowski. Zu Lasten des Familienlebens. „Wir mussten die Waage finden“, ergänzt Adrian Borowski.

Ein Problem: Käufer erwarten freitags, 21 Uhr, noch alle Produkte. Frisch

Champions, Rucola, Pfirsiche, Süßkartoffeln, Brot und Brötchen: Knapp 50 Kilogramm Lebensmittel haben sie dieses Mal auf ihrer Tour gesammelt. Wer als Händler den Foodsavern die Türen öffnet, hat sich Gedanken gemacht, sagt Adrian Borowski. Bisher mache ein Bruchteil der Läden in ihrer Umgebung mit – ein Anfang. Das Problem sei die grundsätzliche Annahme, am späten Freitagabend um 21 Uhr noch die komplette Palette an frischem Fleisch, Wurst, Gemüse und Obst bekommen zu können. Wenn etwas nicht mehr in der erwarteten Qualität da sei, werde es zur Seite gelegt und nicht gekauft.

„Wenn wir am Betrieb ankommen, steht meist ein Rolli bereit, mit dem, was ansonsten im Müll landen würde“, sagt Sonja Borowski. Sie trennen das Genießbare vom dem wenigen wirklich Verdorbenen. Braune Bananen? Könne man noch „zum Verbacken nehmen“. Schrumpelige Möhren? „Ins Wasser legen, danach sehen sie wieder frisch aus.“ Ein bis zwei Tage alte Brötchen? Diese ließen sich gut einfrieren und noch einmal aufbacken. Und vieles andere kann immer noch eingekocht werden.

Sie haben inzwischen drei Kühlschränke zu Hause, sagt Sonja Borowski. „Sie sind nicht alle immer an“, aber die Geräte sind eine Sicherheit, wenn viel gekühlt werden muss. „Wir hatten schon ein ganzes Auto voller Joghurt“ – oder ein Auto voller Eis, als in einem Markt eine Tiefkühltruhe ausgefallen war. In solchen Fällen muss es mit der Verteilung schnell gehen.

Die Borowskis versorgen so sich und 80 weitere Menschen

Das Paar kauft kaum in Supermärkten ein. Es deckt seinen Lebensmittelbedarf durch das Retten – und versorgt über den Verteiler auf seiner Terrasse weitere 80 Menschen mit Essen sowie fünf sogenannte Herzensfamilien, Alleinerziehende, zu denen es Essenspakete bringt. „Für sie ist dies nicht nur ein schöner Lebensstil, für sie sind die Lebensmittel existenziell“, sagt Sonja Borowski, die auch Lebensmittel retten würde, „wenn ich nichts davon behalten dürfte“.

Grundsätzlich gilt, erläutert Adrian Borowski: „Die Tafel hat immer den Vortritt.“ Als Foodsaver liege ihr primäres Ziel nicht im Sozialen, auch wenn die meisten Retter auch soziale Projekte haben, arme Familien und Ältere unterstützten. Ihr Ziel sei es, etwas gegen Verschwendung tun. „Diese Menge hier“, sagt Sonja Borowski und zeigt auf die zwölf Kisten, die sie von ihrer Tour mitgebracht haben, „wäre in der Tonne gelandet – für was?“

Produktion und Handel sind die Hauptverantwortlichen

Die Deutsche Umwelthilfe sieht eine wesentliche Verantwortung dafür, warum so viele Nahrungsmittel im Müll, in der Produktion und im Handel. Zwar fänden laut offiziellen Zahlen nur vier Prozent der Verschwendung auf Handelsebene statt, doch spiele der Handel besonders als Schnittstelle zwischen Produktion und Konsum eine tragende Rolle.

Auch die Marketingstrategien des Handels führten zu Lebensmittelverschwendung. So würden teilweise über Angebote und Rabattaktionen, wie etwa für XXL-Abpackungen, Anreize gesetzt, mehr zu kaufen als man selbst verbrauchen könne. „Vieles davon landet dann oftmals in der Tonne“, sagt Grafe.

Besonders in der Produktion sei die Dunkelziffer der Lebensmittelverschwendung groß. Ein Grund dafür läge bei den EU-Berichtsvorgaben aus Brüssel. „Bestimmte Lebensmittel werden in den frühen Produktionsphasen nicht als solche definiert und fallen deshalb durchs Raster. Dazu gehören unter anderem ungeerntete Lebensmittel, solche die wieder untergepflügt werden oder Tiere die noch vor der Schlachtung verenden. Es deutet zudem vieles daraufhin, dass die bisher in der Landwirtschaft veranschlagten 1,4 Millionen Tonnen einen Großteil der Verluste ausblenden.“

Frankreich macht vor, wie es gehen könnte

Eine Teillösung des Problems würden gesetzliche Rahmenbedingungen nach dem Vorbild anderer Länder sein, so Grafe. Wie etwa Frankreich, wo unverkaufte Lebensmittel künftig nicht mehr weggeschmissen werden dürfen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf solle zudem dafür sorgen, dass Supermärkte in Frankreich ihre nicht verkauften Lebensmittel an Wohltätigkeitsorganisationen spenden. Auch in Italien und Großbritannien gibt es bereits ähnliche Gesetze.

Die Deutsche Umwelthilfe fordert ein solches Gesetz für Deutschland, aber mit besseren Kontrollmechanismen. „Die Beteiligten aller Branchen sollten nachweisen müssen, dass sie alle Maßnahmen ergriffen haben, um Lebensmittel korrekt zu verwerten. Frankreich hat spät entdeckt, wie wichtig eine Überwachung des Wegwerf-Stopps durch eine dafür verantwortliche Behörde ist und diese erst jetzt beschlossen. Zudem wurde das Gesetz erst im Nachhinein im Geltungsbereich auf Kantinen ausgeweitet. Auch daraus können wir lernen und Kantinen sowie andere Lebensmittelunternehmen, wie zum Beispiel die Verarbeitung, gleich einbeziehen“, sagt Grafe.

Das Bewusstsein der Verbraucher muss sich ändern

Sonja und Adrian Borowski wären auch für eine gesetzliche Regelung. Geldstrafen würden Betriebe, zwingen, sich Gedanken zu machen, lernen besser zu haushalten, nur so viel zu ordern, wie sie auch letztlich verkaufen können. Sie haben es auch schon erlebt, dass Nahrungsmittel es erst gar nicht in die Auslage schafften, sondern nur im Lager standen, so Adrian Borowski.

Wie man das Blatt auch dreht und wendet. Eine nicht abzuweisende Rolle spielt am Ende das mangelnde Bewusstsein des Konsumenten. Zum einen verschuldet er mehr als die Hälfte der Gesamtabfallmenge und zum anderen sorgt er mit Anspruch und Konsumverhalten in allen Teilen der Kette für eine Vergrößerung des Mülls.

Richtig einkaufen

Umweltorganisationen empfehlen Konsumenten daher, überlegt einzukaufen und bedacht zu kochen. Man solle sich einen Überblick über die Vorräte bewahren, Mahlzeiten im Vorfeld planen und beim Einkaufen eine Liste verwenden. Beim Kochen sollte man besonders auf die Menge achten und Reste in neuen Gerichten verarbeiten anstatt sie wegzuwerfen. Weiters solle man auf die richtige Lagerung von Lebensmitteln achten.

Aufklärung und Information für Konsumenten bietet die Initiative „Zu gut für die Tonne“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Diese wolle Bundesminister Cem Özdemir zusätzlich ausbauen sowie weitere Maßnahmen erarbeiten, um die Lebensmittelverschwendung vom Feld bis den Handel zu reduzieren. Der Koalitionsvertrag sehe vor, „gemeinsam mit allen Beteiligten die Lebensmittelverschwendung verbindlich branchenspezifisch zu reduzieren, haftungsrechtliche Fragen zu klären und steuerrechtliche Erleichterung für Spenden zu ermöglichen.“ Ein engagiertes Vorhaben, dessen Umsetzung zeitlich drängt.

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