Nationalsozialismus

KZ-Sekretärin: Ist die Anklage gegen Irmgard F. gerecht?

KZ-Sekretärin: Ist die Anklage gegen Irmgard F. gerecht?

KZ-Sekretärin: Ist die Anklage gegen Irmgard F. gerecht?

SHZ
Bad Oldesloe
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Geschichtsunterricht mit Praxisbezug: Staatsanwalt Thorsten Schwarzer informiert Schüler der Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule Bad Oldesloe über den Rechtsstaat. Foto: Michael Ruff/shz.de

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Schüler einer Gemeinschaftsschule in Bad Oldesloe diskutieren die hochaktuelle Frage – mit dem Staatsanwalt, der die 96-Jährige vernahm.

Das Blatt bleibt lange weiß. Und das liegt nicht daran, dass die drei Schüler Nils, Dima und Salman nicht wüssten, was sie in die Pro & Contra-Liste, die vor ihnen liegt, eintragen sollen. „Wir denken zu viel“, sagt Nils, dreht seinen Kugelschreiber noch einmal in der Hand und schreibt dann bei Pro: 11.000 Tote. „Davon muss sie gewusst haben.“

Die Rede ist von Irmgard F. Seit einem knappen Monat muss sich die 96-jährige ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager (KZ) Stutthof vor dem Landgericht Itzehoe verantworten. Nun findet der dritte Verhandlungstag statt. Die Staatsanwaltschaft Itzehoe wirft der Frau Beihilfe zum Mord in 11.000 Fällen vor.

Eine zentrale Frage

„Ist die Anklage gegen Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord zum jetzigen Zeitpunkt angemessen oder gerecht?“ Diese Frage sollen Nils, Dima und Salman nun beantworten, die nur ein paar Jahre jünger sind als es Irmgard F. 1943 war – als sie den Job in der Todesfabrik bei Danzig angetreten hat. „Das ist halt nicht leicht zu beantworten“, sagt der 15-jährige Dima. Und Nils ergänzt: „Aus welcher Sicht man das betrachtet, stellt sich das immer in einem anderen Licht da.“

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Es ist ein besonderer Tag in der Klasse 10a der Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule Bad Oldesloe. Im Rahmen des „Europäischen Tags der Justiz 2021“ und des Landesprojekts „Recht.Staat.Bildung“ erleben die Gemeinschaftsschüler quasi live wie geschichtliche und historische Fragen die Gesellschaft spalten können. „Die Welt guckt, wie die Bundesrepublik Deutschland mit einem der vermutlich letzten Naziverfahren umgeht“, sagt Justizminister Claus Christian Claussen (CDU), der an diesem Tag in die Schule gekommen ist, sich aber betont im Hintergrund hält.


Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit ist auch für die Justiz nicht immer leicht zu beantworten. Thorsten Schwarzer von der Staatsanwaltschaft Itzehoe hat Irmgard F. selbst vernommen. Davon will er den Schülern in Bad Oldesloe an diesem Tag nichts erzählen, schließlich handelt es sich um ein laufendes Verfahren. Aber er kann durch Fragen und Anregungen die Schüler auf Gedanken bringen – entweder wenn er sagt: „Mord verjährt nicht.“ Oder auch: „Im Zweifel für den Angeklagten.“

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Die Schüler nutzen auf Anregung von Klassenlehrerin Stefanie Land mehrere Quellen – etwa Leserbriefe aus unserer Zeitung, die Nils, Dima und Salman nach schlüssigen Argumenten durchforsten, um die Frage nach der Schuld an Massenmorden beantworten zu können. „Welchen Einfluss konnte eine 18-Jährige auf ihre Vorgesetzten ausüben?“ liest Dima vor. „Ihre einzige Möglichkeit wäre die Flucht aus dem KZ gewesen, aber wohl nicht mit dem Taxi“, schreibt eine Leserin – und spielt damit darauf an, dass Irmgard F. zum ersten Verhandlungstag nicht erschien und statt dessen mit einem Taxi Richtung Hamburg fuhr, wo sie die Polizei verhaftete.


Die Jungs könnten jetzt lachen, aber dafür ist ihnen die Sache zu ernst. „Man fragt sich schon, was passiert wäre, wenn Irmgard F. sich im KZ geweigert hätte, dabei mitzumachen“, sagt der 15-jährige Salman. „Es ist kein Fall bekannt, bei dem SS-Angehörige einen Nachteil erfahren hätten, wenn sie sich weigerten“, erklärt Thorsten Schwarzer. „Und dann dürfte das vermutlich erst recht auf Zivilangestellte zutreffen.“

Eben weil Irmgard F. zivil im KZ beschäftigt war, wird ihr erst jetzt der Prozess gemacht. Seit dem Verfahren gegen den KZ-Wärter John Demjanjuk im Jahr 2011 werden immer wieder Anklagen gegen Mittäter geprüft. „Denn erst seit dem Demjanjuk-Urteil entfällt der so genannte Einzelfall-Tatnachweis, der sonst eben immer sehr schwer zu belegen war“, sagt Staatsanwalt Schwarzer.

Wer trägt wann die Schuld?

„Einzelfall-Tatnachweis“ ist ein schweres Wort, aber die meisten Schüler nicken, auch wenn vielen nicht einleuchten mag, warum es diesen Nachweis für Verfahren bis fast 70 Jahre nach Kriegsende immer gebraucht hat, um einen Mörder zu verurteilen. Dabei differenzieren Schüler wie Nils, Dima und Salman schon genau. Denn für sie macht es einen Unterschied, ob ein Wachmann einen Menschen erschießt oder eine Sekretärin davon erfährt, weil es in einem Schriftstück steht, das über ihren Schreibtisch geht. „Und natürlich war das damals auch eine andere Zeit. Da wurden die Jungen doch auch immer manipuliert“, sagt Salman – und Schwarzer gibt ihm recht. Aber die Frage sei was daraus folge: „Kann man die ideologische Verblendung als Entschuldigung dafür nehmen, dass man Menschen heimtückisch und grausam tötet?“


Die Jungs schütteln die Köpfe und stecken sie wieder zusammen. Wie ihre Mitschüler diskutieren sie in kleinen Gruppen viele Fragen weiter, ohne die vorgesehene Pause zu nutzen – bis ihre Klassenlehrerin zu einem Urteil kommen will. Die Schüler sollen beantworten, ob die Anklage gegen Irmgard F. gerechtfertigt ist oder nicht. „Eigentlich ist das klar“, sagt Nils als er nochmal auf seine Pro & Contra-Liste schaut. „Für eine Anklage sprechen die juristischen Argumente – dagegen die moralischen, wie etwa, ob es heute noch Sinn macht, so eine alte Frau für etwas anzuklagen, was fast 80 Jahre her ist und sie dafür vielleicht ins Gefängnis zu stecken, wo sie vermutlich bald sterben wird.“

Mehrheit hält Anklage für richtig

Am Ende entscheiden sich 14 von 17 Schülern der 10a dafür, dass es richtig sei, den Prozess gegen Irmgard F. zu führen. „Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit für die Opfer. Nur weil man alt ist, heißt das nicht, dass man nicht verurteilt werden darf“, sagt Schülerin Amelie, die neben Nils, Dima und Salman sitzt. Die drei sind froh, dass sie heute in einer anderen Zeit groß werden als Irmgard F. vor 80 Jahren. Nils sagt, dass es ihm schwer falle sich in einen Jugend unter dem NS-Regime reinzudenken, schweigt dann kurz und ergänzt: „Ich glaube, dass fast jeder, der hier im Raum sitzt, damals mitgemacht hätte.“

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