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Mehr reden, weniger gehen: Wie Corona Spaziergänge radikalisierte

Mehr reden, weniger gehen: Wie Corona Spaziergänge radikalisierte

Wie Corona Spaziergänge radikalisierte

SHZ
Flensburg
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Sorgen sich nach eigenen Aussagen um die Demokratie: Mehrere hundert Gegner spazieren am Flensburger Hafen gegen die Coronamaßnahmen an. Foto: Marcus Dewanger/shz.de

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„Wie weit können wir gehen?“ fragen sich Corona-Protestler nicht nur im geographischen Sinn. Wütend stapfen sie gegen die Regeln an, verfremden den Spaziergang und verbreiten kurz vor dem Fest der Liebe düstere Stimmung.

Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben: Die Weihnachtswoche ist angebrochen. Sie fragen sich vielleicht: „Weihnachten? War das nicht dieses Fest, das pandemiebedingt abgesagt wurde?“ Nein, da haben wir uns alle vertan, das Fest, das in diesem Jahr ausfallen soll, ist für eine Woche später terminiert.

„Wir wissen aus der Vergangenheit, dass das Weihnachtsfest nicht der Pandemietreiber ist“, sagte jetzt erst NRW-Neu-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Eine weihnachtliche Kaffeetafel oder ein Abendessen mit der Familie werde möglich sein. „Aber die große Silvestersause wird es nicht geben können.“ Darauf hat sich der CDU-Mann als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verständigt. Heute beraten Bund und Länder über das weitere Vorgehen, aber ein „Lockdown light“ ab dem 28. Dezember wird immer wahrscheinlicher.

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Man könnte also meinen, dass einem ruhigen Fest der Liebe nichts mehr im Wege steht, aber da wurde die Rechnung ohne die Spaziergänger gemacht, die jede noch so friedliche Szenerie in nur wenigen Stunden verwandeln können.

Eine Innenstadt, zwei Welten

Sonnabend, Mittagszeit, in der Flensburger Fußgängerzone wird der gute Vorsatz, in diesem Jahr alle Weihnachtsgeschenke offline zu shoppen, in die Tat umgesetzt. Schiebetür auf, Ausweis raus. „Haben Sie ein G?“ Na klar doch. Dort, wo wenige Tage vor dem Fest Krieg herrschen sollte, regiert die Freundlichkeit. Keine Spaltung der Gesellschaft in Sicht. In der Buchhandlung des Vertrauens sowieso nicht. Dort gilt kein 2G. Bücher gehören zum „täglichen Bedarf“. Dass das jetzt ganz Deutschland weiß, ist eine der wenigen guten Erkenntnisse aus der Pandemie.

Aber auch andernorts achten die Menschen auf Abstände, Bodenmarkierungen und Warteregeln. Anstehen vor dem Süßigkeitenladen, Einlasskontrolle vor dem Spielwarengeschäft – nie lief der Weihnachtseinkauf gesitteter ab. Den Händlern gefällt es. Die guten Wünsche klingen aufrichtig. Klar, die Kauflaune der Norddeutschen hilft. Fazit nach vier Stunden: heile Welt in der Innenstadt.

Die Sonne geht unter, die Masken fallen

Zuhause dann der Schreck: Eine Einkaufstüte fehlt. Drei Telefonate später ist klar, die Buchhändlerin hat sie gefunden. Zurück ins Zentrum. Gleicher Ort, andere Zeit, andere Welt.

Die Sonne ist untergegangen, die Masken fallen. Die freundlichen Gemüsehändler haben eingepackt. Die nicht weniger freundlichen, aber sichtlich überforderten Glühweinausschenker versuchen, die drängelnde Menge zu befriedigen.

Der Straßenmusikant an der Ecke hat sein gelangweiltes Spiel unterbrochen. Gegen die Polizeisirenen von der Hafenspitze kommt er sowieso nicht an. Die Maske hängt unterm Kinn, die Fluppe im Mundwinkel, die Gitarre auf halb acht. „Dieses Mist-Corona macht alles kaputt.“ Er sagt es laut. Niemand bleibt stehen. Die Menschen eilen zum Weihnachtsmarkt oder zum Spaziergang.

Erst Freizeit-Ersatz, dann Protestform

Spazierengehen ist jetzt nämlich eine Protestform. Alleine 45 dieser Spaziergänge waren für Montag in Schleswig-Holstein angemeldet worden. Sie spazieren gegen die Coronaregeln an und auf Weihnachten zu.

Wann ist das passiert, dieser schnelle Aufstieg und Fall des Spaziergangs? In der Kindheit noch ein Garant für Langeweile, eine Tätigkeit für Eltern und Großeltern, wurden wir doch im ersten Lockdown plötzlich alle zu Spaziergängern. Frische Luft, kurz vor die Tür, mein Haushalt und ich einmal um den Pott. Flanieren war das neue Ausgehen, Ersatz für Kino, Disco, Theater, einfach alles. Und jetzt? Spaziergänger, das sind die Radikalen, die Ungeimpften, die Schwurbler, die Anderen. So einfach, so falsch.

Es sind auch die Verunsicherten, die Trotzigen, die „Aber-Menschen“. „Ich will mich ja impfen, aber...“. Die, die nur mal gucken wollen, wie weit sie gehen können. Im wahrsten Sinne.

Nicht die Impfdebatte entzweit uns, es sind die wütenden Marschierer

Irgendwie hat Corona vieles, was einst als gut galt, ins Negative verkehrt. „Querdenker“ waren mal Individualisten, die mit Pioniergeist vorangehen. Das Hinterfragen, Regelbrechen, das Anzweifeln, nicht blind zu vertrauen – das alles haben wir mal geschätzt. Jetzt, wenige Tage vor dem Fest der Liebe, entzweit es uns. Es ist nicht die Impfdebatte, die die Gesellschaft spaltet, es sind nicht die Gastronomen oder Ladenbesitzer, die unsere Ausweise checken, es sind Menschen, die lieber wütend an der Wasserlinie entlang stapfen, als miteinander zu reden. Es sind aber auch die, die verächtlich auf die marschierenden Wütenden zeigen, anstatt sie zu fragen, was sie so bewegt.

Da Silvester jetzt ausfällt, könnten wir doch einfach die Sache mit den guten Vorsätzen vorziehen. Wir könnten aufeinander zugehen. Wenn jeder an Weihnachten mit nur einem Menschen spricht, der genau nicht die eigene Meinung teilt, wächst vielleicht doch noch Verständnis.

Schließlich wollen wir in zwei Wochen alle noch neun Freunde haben, mit denen wir coronakonform das neue Jahr begrüßen können.

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