Afghanen aus Flensburg

Shabdiz Mohammadi hat Angst um seine Familie

Shabdiz Mohammadi hat Angst um seine Familie

Shabdiz Mohammadi hat Angst um seine Familie

SHZ
Flensburg
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Machtlos und fassungslos verfolgt Shabdiz Mohammadi, was in seiner Heimat Afghanistan passiert. Foto: Michael Staudt/SHZ

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Sie sind selbst vor dem Terror in Afghanistan geflohen: Eine ehemalige Ortskraft, ein Kulturschaffender und ein Auszubildender berichten über eigene Erlebnisse, die aktuelle Situation und wie es ihren Familien geht.

Qais Hatefi ist mit dem Leben davon gekommen, als ein Teenager mit Sprengstoffgürtel und im Namen der Taliban am 11. Dezember 2014 das französische Kulturzentrum in seiner Stadt Kabul in die Luft sprengen wollte. Zwei Menschen starben, es gab viele Verletzte. Qais Hatefi reiste kurz darauf nach Europa und kehrte nicht in seine Heimat Afghanistan zurück, weil seine Familie ihn warnte, er werde dort bedroht. Er lebt seit Anfang 2015 in Deutschland, seine Eltern kamen ein halbes Jahr später nach.

Der heute 29-Jährige landete in Flensburg, machte einen weiteren Bachelor in European Cultures und Society und arbeitet aktuell für die Linksfraktion der Hamburgerischen Bürgerschaft. Er vermisse Flensburg, sagt er, will zurück und sein Studium an der Förde fortführen.

Gefühlschaos bei Qais Hatefi

Schon vor drei Jahren in einem Interview wies er darauf hin, dass die Taliban mehr Gebiete als 2014 unter Kontrolle gebracht hatten. Es sei nicht leicht, die aktuellen Bilder aus seiner Heimat anzusehen. Im Moment weiß er nicht, was er empfinden soll, sagt der Afghane und beschreibt seine Gefühle als chaotisch.


Als Junge habe er miterlebt, wie die Taliban von 1996 bis 2001 das erste Mal Tausende Menschen ermordet hatten. „Wir haben fünf Jahre nur in Dunkelheit gelebt“, sagt Qais Hatefi. Er beschreibt die Zeit, in der es nur Radio gab mit Nachrichten am laufenden Band. Sein Vater habe ihm Lesen und Schreiben beigebracht, eine Tante Kalligraphie und der Onkel Geschichten in Versform erzählt. Als „Barbaren“ bezeichnet der ehemalige Pressesprecher des französischen Kulturzentrums in Kabul die Machthaber von damals, die vom „selben Typ“ seien wie die neuen 20 Jahre später.

Das Bild vom Leben unter den Taliban hat sich eingebrannt in sein Gedächtnis. „Meine Generation hat keine Kindheit erlebt, doch alles geleistet für ein besseres Land in 30 Jahren – und man sieht, dass die Welt den Rücken kehrt.“ Die Geschichte wiederhole sich gerade, beobachtet der Afghane, fürchtet um die Jüngsten heute – und das stimme ihn „sehr, sehr, sehr traurig“.


Shabdiz Mohammadi ist fünf Jahre jünger als Qais Hatefi und ebenfalls in Kabul groß geworden. Mit seinem Zwillingsbruder Parwez kam er am 3. November 2015 nach Flensburg. Schon früher habe er gesagt: „Die Menschen fliehen nicht aus Spaß.“ Das sieht der 25-Jährige auch heute so. In ihrer Kindheit mussten die Brüder erleben, „wie die Taliban nach eigenen Gesetzen“ Afghanistan beherrschten. Nun seien Freiheit und Demokratie „wieder auf null gesetzt“.

Shabdiz Mohammadi ist erschüttert von den Ereignissen in der Heimat

Die Initiative zur Demo auf dem Südermarkt in Flensburg geht auf die Initiative des Afghanisch-Deutschen Kulturvereins zurück, der sich im Herbst 2020 gründete und dem Shabdiz Mohammadi vorsitzt. „Was in Afghanistan passiert, erschüttert uns“, spricht er für den Verein. Der will sich einsetzen für die „Unschuldigen, die zurück gelassen wurden“, während die Regierung das Land verkauft und verlassen habe.

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Die Taliban seien Terroristen, die von Haus zu Haus gingen. Die Gemeinschaft der Afghanen sei groß, man wisse, wer der Nachbar sei. Viele Bekannte seien schon umgezogen, um nicht gefunden zu werden.

Mohammadi hat sich in Flensburg zunächst mit Englisch durchgeschlagen, schnell Deutsch gelernt und Kurse selbst bezahlt, sagt er. Er hat als Sprachmittler gearbeitet, sich bei den Sportpiraten engagiert. „Ich habe mir Mühe gegeben, weil ich Flensburg als meine neue Heimat sehe.“ Derzeit ist er im zweiten Ausbildungsjahr zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Seinen Eltern hatte er seinerzeit die Entscheidung zu bleiben überlassen. „Jetzt möchte ich nicht, dass sie unter den Taliban leben.“

Die afghanischen „Twin Towers“

Augenscheinlich friedlichen Bildern, die die Taliban gerade in die Welt setzen, glaubt er so wenig wie Qais Hatefi das macht. Sie sollten jeden, der nachdenkt, misstrauisch stimmen: Von nicht gewählten Milizen sei lediglich „eine schlechtere Version des iranischen Ayatollah-Regimes – nur weniger gebildet“ zu erwarten, sagt Hatefi. Er geht davon aus, dass die Taliban bis zu ihrer „Legitimierung“ alles belassen wie es sei und dann ihr wahres Gesicht zeigen. „Das ist der Anfang vom Ende“, sagt er über die Machtübernahme, mit der die afghanischen „Twin Towers“, nämlich Menschenrechte und Demokratie, fielen.

Und doch kann er sich nicht vorstellen, dass seine Landsleute „20 Jahre Enlightenment“ aufgeben. Der Widerstand sei noch abwartend, beschreibt Qais Hatefi und hat von Rückzügen ins Pandschschir-Tal gehört.


In vielen Provinzen seien bereits Studentinnen und Frauen von ihrer Arbeit nach Hause geschickt worden, berichtet Shabdiz Mohammadi; aus der Region Herat habe er auch von Journalistinnen gehört.

Aus der Region an der Grenze zum Iran kommt Nematullah Naeemi. Der 32-Jährige flüchtete 2015 nach Deutschland. Nach seinem Bachelor-Abschluss strebt er den Master an der Europa-Universität Flensburg in European Studies an und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft.

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Naeemi ist besorgt, traurig und hat Angst, auch um seine Familie. Wegen seiner damaligen Tätigkeit von 2011 bis 2014, zunächst als Übersetzer, dann „Administration Officer“, in Diensten der Nato in Afghanistan haben seine Brüder rechtzeitig vor Jahren das Land verlassen, aber seine Eltern leben noch dort.

Nematullah Naeemi versucht, seine Eltern aus dem Land zu holen

Ihre Situation sei seinetwegen schlimmer als die anderer Landsleute, deshalb versuche er, einen Weg zu finden, sie aus dem Land zu holen. Auch die Lage seiner Generation bewegt ihn. Viele haben in den letzten 20 Jahren Englisch gelernt, sind Computerexperten, haben international gearbeitet – sie müssen das Land verlassen. Einer dieser jungen Menschen sei er selbst, sagt Nematullah Naeemi.

Die Bilder vom Kabuler Flughafen stimmen ihn traurig, denn er weiß, wie groß die Not sein muss. „Niemand will seine Heimat verlassen.“ Aber eine andere Option gibt es für viele nicht.


Wie schwierig es ist, das durchzusetzen, wissen Bente und Daniel Paulig. Mit ihrem Flensburger Unternehmen Versorgungstechnik e.K. waren sie mehr als zehn Jahre lang in Afghanistan tätig. In der Zeit haben sie „Land und Leute kennengelernt und Freunde gefunden“, sagen sie.

Bente und Daniel Paulig klagen über untätige Behörden

„Seit April versuchen wir, Mitarbeiter und deren Familie mit Kindern dort rauszuholen“, berichten die Pauligs und beklagen bitter die Untätigkeit der Ämter: „Sämtliche Behörden wurden informiert, um Hilfe gebeten – und keiner hat reagiert. Es musste jetzt erst zu diesem Desaster kommen, und für viele wird es zu spät sein.“

Ausweglose Lage in Masar-e Scharif für ehemalige Ortskräfte

Drei der Mitarbeiter seien in Dubai, während deren Familie in Kabul festsitze, weil die Tore des Flughafens von Taliban bewacht werden und ein Reinkommen unmöglich wurde, schildern Bente und Daniel Paulig. Einer ihrer Partner „sieht keinen Ausweg mehr“, denn rettende Flüge ab Kabul scheinen unerreichbar. Er sei mit Frau und Kindern in Masar-e Scharif, wo sich das Camp Marmal befand, ein Feldlager der Bundeswehr, für das die Pauligs arbeiteten.

Sämtliche Straßen würden von den Taliban kontrolliert; doch genau dort im Norden Afghanistans säßen womöglich besonders viele ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr fest und fürchteten um ihr Leben, ahnen die Pauligs.

Qais Hatefi nennt eine weitere Gruppe, die vergessen werde: Afghanische Freunde in Norddeutschland, die seit Jahren hier lebten und deren Asylverfahren immer noch liefen, warteten auf die Entscheidung vom Amt und den Familiennachzug. Jetzt mehr denn je. „Über sie redet keiner“, bedauert Hatefi.

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