Urlaub 2022

Sylt in Sorge wegen 9-Euro-Ticket? Einen Ansturm gab es 1995 schon mal

Sylt in Sorge wegen 9-Euro-Ticket? Einen Ansturm gab es 1995 schon mal

Sylt in Sorge wegen 9-Euro-Ticket?

SHZ
Sylt
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Hamburger Autonome erschienen im März 1995 auf Sylt nach dem Motto „Freier Strand für Alle - sonst gibt es Krawalle." Nach Einkesselung durch die Sylter Polizei erfolgte Abtransport aufs Festland. Foto: Syltpicture (Volker Frenzel)/shz.de

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Als 1995 mit dem Wochenend-Ticket Tausende Kurzurlauber die Insel fluteten, forderten Sylter die Abschaffung des „Billigtickets“ und provozierten damit ungebetenen Besuch. Eine Erinnerung aus gegebenem Anlass.

Das zum 1. Juni geplante 9-Euro-Bahnticket wird im Norden nicht nur positiv gesehen. Etwa auf Sylt machen sich Verantwortliche Sorgen, weil unter anderem die Strecke zwischen dem Festland und der Insel mit dem Nadelöhr Hindenburgdamm voraussichtlich noch stärker frequentiert sein wird als üblich. „Wir rechnen während des Aktionszeitraums mit erhöhtem Fahrgastaufkommen – sowohl in den Zügen der Marschbahnstrecke von Hamburg nach Sylt als auch in den Bussen auf der Insel“, sagte der Geschäftsführer der Sylt Marketing, Moritz Luft, vor wenigen Tagen der Deutschen Presse-Agentur.

Da diese in den Sommermonaten zeitweise ohnehin schon an der Kapazitätsgrenze seien, „sehen wir die Insel nicht optimal (aus-)gerüstet für das 9-Euro-Ticket und den damit verbundenen zu erwartenden Ansturm“, sagte Luft. Er appellierte an Reisende, bei ihrer An- und Abreise möglichst auf Randzeiten auszuweichen und dabei auf die Reisezeitempfehlungen des Nahverkehrsverbundes Nah.SH achten.

Die Sorge vor einem Urlauberansturm durch das Billigticket der Bahn weckt Erinnerungen an das Jahr 1995, als die Bahn das „Schönes-Wochenende-Ticket“ einführte. Ein lukratives Angebot für Kurzreisende, denn Gruppen bis zu fünf Personen zahlten auf allen Strecken für Hin- und Rückfahrt bescheidene 15 Mark.

Doch Sylt und andere Urlaubsgebiete lernten damals schnell die Kehrseite der Medaille kennen. Als kurz vor Ostern die ersten warmen Sonnenstrahlen lockten, fluteten Tagestouristen Sylt förmlich, erinnert sich Autor Frank Deppe 2013 in einem Beitrag für die Sylter Rundschau: „In den Zügen stapeln sich die Menschen wie die Sardinen – zum Teil muss das Bahnpersonal Personen festhalten, die durch die Fenster in die völlig überfüllten Züge klettern wollen“.

Weiter schreibt Frank Deppe:

Die Besuchermassen lösen 1995 auf der Insel nur wenig Freude aus. Durch die überfüllten Züge würden die regulären Urlaubsgäste abgeschreckt und an den Wochenenden drohe das totale Chaos. Was als Kritik an der Bahn gemeint ist, wird vielerorts als Verunglimpfung der „Billigtouristen“ aufgefasst. Sprüche wie „Wer für drei Mark nach Sylt reist, hat nicht einmal drei Mark Taschengeld dabei" von einem führenden Dehoga-Vertreter schaffen es ebenso wie die Sylter Forderung nach Abschaffung des „Billigtickets“ bundesweit in die Schlagzeilen.

Was am 25. März, einem Sonnabend, etliche junge Hamburger dazu veranlasst, das preiswerte Angebot der Bahn für einen Spontan-Besuch auf der Insel zu nutzen. Wobei sie ihre eigene Vorstellung vom Kurzurlaub haben: Eine Gruppierung mit dem durchaus einfallsreichen Namen „Strandguerilla Hamburg“ lädt zum „Politischen Chaos-Tag auf Sylt". In einem Flugblatt, das in der Hamburger Szene kursiert, propagieren die Verfasser: „Sylt für alle, sonst gibts Krawalle! Erfrecht sich doch die Sylter Bourgeoisie eines direkten Angriffs gegen die proletarischen Massen! Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“

Randale auf Sylt

Tatsächlich besteigen an diesem Tag bereits im Morgengrauen etwa einhundert Autonome in Hamburg den Zug nach Sylt. Ebenso viele Polizeibeamte erwarten die Besucher am Westerländer Bahnhof – doch sie warten vergebens. Die ungebetenen Gäste waren schon am Bahnhof in Keitum ausgestiegen, nachdem sie zuvor einen Bahnwaggon verwüstet hatten. Auf ihrem Weg durchs Friesendorf demolieren die zum Teil vermummten Besucher mehrere geparkte Autos, bevor sie schließlich über die Keitumer Landstraße gen Westerland marschieren.

Mit Polizeibegleitung zurück nach Hamburg

Ein grober Schnitzer, wie sich kurz darauf zeigen soll: Auf freier Strecke findet die Polizei ideale Gegebenheiten, die Autonomen einzukesseln und gruppenweise in den Gefängnishof der Westerländer Polizeiwache abzutransportieren. Im Chor protestieren die Gefangenen dort lautstark: „Wir sind das Volk!“ Bilanz des Vormittags: Zwei verletzte Randalierer, etwa 30.000 Mark Sachschaden, dazu diverse Funde wie Zwillen, Schlagwerkzeuge und Signalmunition. Unter Polizeibegleitung geht es am Nachmittag mit dem Zug zurück in die Hansestadt – von der Bahn wird dafür eigens der am Morgen demolierte Waggon an den Zug angehängt.

24 Jahre nach diesem Ereignis auf Sylt wurde das „Schönes-Wochenende-Ticket“ für bundesweite Reisen in Nahverkehrszügen abgeschafft – wegen mangelnder Nachfrage und einer „Vereinfachung der Tarifstruktur“. Im Laufe der Jahre war der Angebotsumfang des Ticktes immer weiter eingeschränkt worden, während der Preis deutlich stieg. So konnten Fahrgäste von der Einführung des Angebots 1995 bis 1999 mit einem Ticket am Samstag und Sonntag quer durchs Land fahren, später galt es nur noch an einem der beiden Tage. Der Preis stieg von 15 D-Mark auf bis zu 68 Euro für fünf Personen im Jahr 2018.

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