Geschichte

Turner, Ringreiter, Kampfgenossen: Wie Nordfrieslands reges Vereinsleben geboren wurde

Turner, Ringreiter, Kampfgenossen: Wie Nordfrieslands Vereinsleben geboren wurde

Wie Nordfrieslands reges Vereinsleben geboren wurde

Prof. Dr. Thomas Steensen
Nordfriesland
Zuletzt aktualisiert um:
Turner in Husum, um 1900 Foto: Kreisarchiv NF

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So mancher Verein klagt heute über Nachwuchssorgen. Vor anderthalb Jahrhunderten dagegen gab es eine regelrechte Gründungswelle. Viele Vereine der Gegenwart haben ihre Wurzeln in jener Zeit.

Die Jahre nach der Proklamation des deutschen Kaiserreichs 1871 werden als „Gründerzeit“ bezeichnet. Nordfriesland war noch kurz zuvor, bis zum deutsch-dänischen Krieg 1864, mit Dänemark verbunden gewesen. Doch die Reichsgründung wurde hier kaum weniger begeistert gefeiert als andernorts in Deutschland. Es herrschte allenthalben Aufbruchstimmung. Zahlreiche Wirtschaftsunternehmen wurden aus der Taufe gehoben, Pläne geschmiedet. Festgefügte Formen in Familie und Dorf, in Sitten und Gebräuchen veränderten sich oder lösten sich sogar auf.

Die „Freizeit“ wurde zu einer neuen Kategorie des Daseins. In ihr suchten die Menschen Geselligkeit, Vergnügen und Erholung, aber im Sinne von Aufklärung und Liberalismus auch Bildung und Teilhabe am öffentlichen Leben. In einer Vielzahl von Vereinen schlossen sie sich nun zusammen, um ihren Interessen nachzugehen und gemeinsame Anliegen zu pflegen.

Kampfgenossenvereine als neuer Trend

Das Kaiserreich war stark von sozialen Unterschieden geprägt. Aber in den Vereinen galt, zumindest in der Theorie, jedes Mitglied gleich viel, unabhängig von Geburt, Stand, Besitz, Bildung oder Dienstgrad. Allerdings herrschten vielfach militärische Formen. Dies galt insbesondere für die Kampfgenossen- und Kriegervereine, die geradezu wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Kampfgenossenvereine bestanden aus ehemaligen Soldaten der schleswig-holsteinischen Armee von 1848–50. Sie verfolgten, wenigstens zunächst noch, das Ziel eines unabhängigen Schleswig-Holsteins. Die nach der Reichsgründung 1871 entstehenden Kriegervereine wurden vollends auf eine nationale Linie gebracht. Sie standen für den deutschen Reichsgedanken, hielten das Königs- und Kaiserhaus hoch und ließen Töne eines übersteigerten Nationalismus hören.

Kriegsvereine wandten sich gegen „Reichsfeinde“

Der Kriegerverein in Tönning etwa wollte „die Liebe und Treue für Kaiser und Reich, Landesfürst und Vaterland bei seinen Mitgliedern pflegen, bethätigen und stärken sowie die Anhänglichkeit an die Kriegs- und Soldatenzeit im Sinne kameradschaftlicher Treue und nationaler Gesinnung aufrecht erhalten“. Man wandte sich gegen „Reichsfeinde“; damit waren vor allem Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei und allzu überzeugte Demokraten gemeint. Allein im Kreis Husum bestanden 35 solcher Vereine mit 2600 Mitgliedern. Sie gehören lange der Vergangenheit an.

Kameradschaft in den Schützenvereinen

Nationaldeutsche Gesinnung und „Kameradschaft“ galten auch in den Schützenvereinen als hohe Werte. Neben die alten Gilden in Husum, Friedrichstadt und Tondern traten jetzt neue Vereine, so in Wyk auf Föhr, in Bredstedt und in Niebüll-Deezbüll. Zu den seit den 1840er Jahren bestehenden „Liedertafeln“ kamen weitere Männerchöre. In ihrem Repertoire fanden sich jetzt immer mehr Lieder, in denen Preußens Gloria und das deutsche Kaiserreich besungen wurden. Ihre großen Auftritte hatten die „vaterländischen“ Verbände bei den nationalen Feiern: Kaisers Geburtstag, „Sedan-Fest“ zur Erinnerung an die siegreiche Schlacht gegen Frankreich vom 2. September 1870 und Reichsgründungstag am 18. Januar. Aufmärsche mit schwarz-weiß-roten Fahnen und „markige“ Reden gehörten unbedingt dazu.

Turnvereine: Frisch, fromm, fröhlich, frei

Neben den Sängern galten vor allem die Turner als eine Hauptstütze der nationalen und zugleich liberalen Bewegung. Mehrere Vereine entstanden bereits unmittelbar nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864, so in Bredstedt und Tönning. Auch in Nordfriesland hielten sie die vier „F“ hoch: frisch, fromm, fröhlich, frei. Im Kaiserreich sollte körperliche Betätigung auch der Wehrertüchtigung dienen. Schon bald erfreute sich das Radfahren großer Beliebtheit, der Radfahrverein für Haselund, Kollund und Brook hieß „Fohr seker“, der in Husum „Lat di Tied“. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fanden die aus Großbritannien stammenden Sportarten Fußball und Tennis Anhänger in Nordfriesland. Aber auch die heimischen Sportarten Ringreiten und Boßeln wurden zunehmend von Vereinen getragen.

Immer mehr Freiwillige Feuerwehren

Einem Lauffeuer gleich verbreiteten sich seit den 1870er Jahren die Freiwilligen Feuerwehren. Die Brandbekämpfung wurde damit auf eine neue Grundlage gestellt. Die erste Freiwillige Feuerwehr in Deutschland war 1841 in Meißen entstanden. Verheerende Brände machten in den 1850er Jahren die Notwendigkeit einer verbesserten Abwehr auch in Nordfriesland deutlich. So wurden in Husum fünfzig Häuser zerstört, in Wyk auf Föhr und in Bredstedt brannten jeweils fast hundert Gebäude. Seit 1875 entstanden Jahr für Jahr neue Feuerwehren in den Städten und Dörfern, zuerst in Friedrichstadt, Husum, Garding, Tönning, Nordstrand, Wyk auf Föhr, Bredstedt, Leck, Keitum auf Sylt, Niebüll, Westerland. Der Gedanke, schon Kinder und Jugendliche an die Brandbekämpfung heranzuführen, wurde erstmals 1882 in Oevenum praktiziert.

Erste Jugendfeuerwehren

Damals entstand in dem kleinen Dorf auf Föhr die erste Jugendfeuerwehr in ganz Deutschland. Auch der friesischen Sprache widmeten sich Vereine. In Tondern gründeten Seminaristen aus Nordfriesland einen „Friesenclub“, der vor allem der Geselligkeit diente. Im Jahr 1879 entstand dann in Niebüll-Deezbüll ein erster Nordfriesischer Verein. Die beabsichtigte Ausdehnung in andere Gebiete Nordfrieslands gelang allerdings zunächst nicht. Erst 1902 wurde für die gesamte Region der Nordfriesische Verein für Heimatkunde und Heimatliebe gebildet.

Gewerbevereine für wirtschaftliche Interessen

Zahlreiche Zusammenschlüsse dienten beruflichen und wirtschaftlichen Interessen. So bildeten 1873 Kaufleute und Handwerker in Leck einen Gewerbeverein, der unter anderem Ausstellungen veranstaltete. Landwirtschaftliche Vereine bestanden bereits länger, neue für besondere Zwecke kamen hinzu. Für Drelsdorf und Umgebung etwa wurde ein Pferde-Versicherungsverein ins Leben gerufen, um die Bauern vor Verlusten durch unheilbare Krankheiten und Sterbefälle der Tiere zu schützen. Auch Lehrer und Fischer zum Beispiel gründeten eigene Vereine.

Gewerkschaften hatten es schwer

Die Gewerkschaften hingegen fanden im ländlichen Nordfriesland nur schwer Mitglieder. Die Vereine bildeten eine Domäne der Männer. Frauen waren von gesellschaftlicher Mitwirkung so gut wie ausgeschlossen. Sie fanden ein Betätigungsfeld auf sozialem Gebiet. Namentlich Damen des gehobenen Bürgertums schlossen sich in Vaterländischen Frauenvereinen zusammen, zum Beispiel in Niebüll. Sie gingen später im Roten Kreuz auf. In Bredstedt war ein Verein „Frauenwohl“ tätig. Die Not der Armen lindern wollte ein Frauenverein in Leck. In einem Jahr gab er 548 Portionen Mittagessen an Bedürftige aus. Wohl der erste Tierschutzverein Nordfrieslands wurde 1879 in Husum gegründet. In Leck entstand zwei Jahre darauf ein Verschönerungsverein, der noch heute besteht. Er pflanzte Zehntausende Bäume. Eher kurios mutet ein „Rauchclub“ in Husum an. Er hat die Zeiten nicht überdauert. Dennoch ist Nordfriesland eine Landschaft der Vereine geblieben.

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