Schleswig-Holstein

Warum die Bluttat in Brokstedt zu verhindern gewesen wäre

Warum die Bluttat in Brokstedt zu verhindern gewesen wäre

Warum die Bluttat in Brokstedt zu verhindern gewesen wäre

Eckard Gehm/shz.de
Brokstedt
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Andacht für die Opfer des Messerangriffs in Brokstedt Foto: Axel Heimken/shz.de

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Den tödlichen Messerstichen im Regionalexpress ging ein behördliches Versagen auf nahezu allen Ebenen voraus. Das offizielle Narrativ aller Fraktionen ist jedoch, dass die Tat nicht zu verhindern gewesen wäre. Die Wahrheit ist das nicht.

Es war ein Satz, der nur schwer zu ertragen war und es noch immer ist: In der Aktuellen Stunde des Landtags Ende Februar sagte Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne): „Leider müssen wir feststellen, dass selbst im Falle einer besseren Zusammenarbeit die Ausweisung nicht hätte erfolgen können.“ Die Tat von Brokstedt sei nicht zu verhindern gewesen.

Mit dieser Sichtweise, die mit Blick auf den subsidiären Schutz des Tatverdächtigen Ibrahim A. (33) und die fehlenden Abkommen mit den palästinensischen Autonomiegebieten zutreffend ist, steht Touré nicht allein. Alle Fraktionen haben auf Nachfrage noch einmal bestätigt, diese Meinung zu teilen.

Verbannt ins Reich des Schicksalhaften

Nur: Wer öffentlich so argumentiert, schleicht sich aus der Verantwortung. Nicht nur, weil er den Fokus wissentlich zu stark auf die Abschiebung legt und das eigenen Behördenversagen aufs Nebengleis schiebt, sondern auch, weil er die Tat ins Reich des Schicksalhaften verbannt. Im Landeshaus gilt es jedoch längst als Wahrheit, dass die Tat sehr wohl hätte verhindert werden können.

Intern sagen Abgeordnete, Hamburg war für Ibrahim A. zuständig

Allerdings soll Schleswig-Holstein nicht der Hauptschuldige sein. Die Hamburger Ausländerbehörde hätte sich für den Flüchtling aus Gaza zuständig erklären müssen, sagt ein Abgeordneter. Grund: Bereits Ende 2021 habe Ibrahim A. in Hamburg Sozialleistungen beantragt. Nach seiner Haft wegen des Messerangriffs in der Obdachlosenhilfe „Herz As“ habe er sich dann sofort wieder im Hamburger Jobcenter gemeldet und ja auch den Kieler Behörden erzählt, er habe in Hamburg einen Schlafplatz.

Auch Kieler Ausländerbehörde hätte handeln können

Lesart ist diese: Die Hamburger Ausländerbehörde hatte Ibrahim A. die fehlende Friktionsbescheinigung erteilen müssen, was die Fahrt nach Kiel überflüssig gemacht hätte, in deren Anschluss es zur Bluttat kam. Ausgeblendet wird dabei geflissentlich, dass auch die Kieler Ausländerbehörde eine Weiche hätte stellen können. Sie hatte eine Anfrage von Hamburger JVA Billwerder mit der Bitte erhalten, die Aufenthaltsbescheinigung von Ibrahim A. zu verlängern. Sie hätte direkt ins Gefängnis geschickt werden können. Weil die Anfrage jedoch informell war, passierte: nichts.

Keine Fraktion sieht verpasste Chancen

Offiziell sieht keine der Fraktionen verpasste Chancen. „Selbst wenn die Fiktionsbescheinigung im Gefängnis zugestellt worden wäre, hätte er sich genauso gut aus einem anderen Grund in einen Zug setzen, oder die Tat an einem anderen Ort verüben können“, sagt SPD-Innenexperte Niclas Dürbrook. „Ob die Tat nicht stattgefunden hätte, wenn die Fahrt nicht stattgefunden hätte, ist höchst spekulativ“, meint Jan Kürschner, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion.

SSW glaubt an ähnliche Tat an anderer Stelle

Der SSW-Fraktionsvorsitzenden Lars Harms sagt: „Ob der Täter dann an anderer Stelle eine ähnliche Tat begangen hätte, lässt sich aber nicht sagen.“ Und die justizpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, Birte Glißmann, erklärt: „Die Frage, was in diesem Fall passiert wäre, ist absolut hypothetisch.“ Bernd Buchholz, innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, ist überzeugt: „Allenfalls eine andere Gefährdungseinstufung durch einen Psychologen oder Psychiater hätte die Situation verändern können.“

Ibrahim A. soll fast durchgängig an Halluzinationen gelitten haben

Die Justizbeamten der JVA Billwerder hatten notiert, Ibrahim A. habe „fast durchgängig“ Halluzinationen, bilde sich Klopfgeräusche aus den anderen Zellen ein. Er klopfe und schabe dann zurück. Ein Psychiater und Suchtmediziner, der ihn für den Prozess begutachtete, stellte eine „akute wahnhafte Störung“ fest, führte das aber auf die Haftsituation zurück. Dabei war Ibrahim A. bereits regelmäßig beim Psychiater der Anstalt, schluckt Tabletten gegen Depressionen.

Strafrabatt für die Einnahme von Methadon

Beim Urteil zu den Messerstichen in der Hamburger Obdachlosenhilfe erhielt Ibrahim A. Strafrabatt, weil er mit Methadon behandelt wurde, obwohl dies „medizinisch nicht anzeigt“ gewesen sei. In der Haft scherte das die Ärzte jedoch nicht, die Behandlung ging weiter, die Dosis wurde sogar erhöht. Dem „Spiegel“ sagt Björn Seelbach, Rechtsanwalt von Ibrahim A.: „Man bekommt den Verdacht, dass man ihn damit schlicht ruhigstellen wollte.“

Bei seiner Entlassung gab man Ibrahim A. 14,80 Euro Taschengeld und erinnerte ihn daran, nach Kiel fahren zu müssen, um seine Aufenthaltsbescheinigung zu verlängern.

Unterdessen sind neue Details der Tat bekannt geworden. Nach dem gescheiterten Versuch, in Kiel die notwendigen Dokumente zu erhalten, soll Ibrahim A. im Regionalexpress 70 nach Hamburg Kleidungsstücke an und ausgezogen, sich über die Sitze gelehnt und sein T-Shirt hochgezogen haben. So berichtete es ein Zeuge der Polizei. Dann soll er auf Ann-Marie K. (17) und Danny P. (19) eingestochen, das frisch verliebte Paar getötet und weitere Menschen im Zug schwer verletzt haben. Das Messer mit 20 Zentimeter Klingenlänge hatte Ibrahim A. in Kiel in einem Supermarkt gestohlen.

Sozialministerium arbeitet an verbesserter Kommunikation

Nun arbeitet das Kieler Sozialministerium, Fachaufsicht der Ausländerbehörden, an einer „verbesserten, auch länderübergreifenden Kommunikation alle beteiligten Behörden“. Zudem werde die Arbeitsgruppe „Aufenthaltsrechtliche Behandlung straffälliger Ausländer“ besondere Einzelfälle künftig fachaufsichtlich begleitet, wie Sprecherin Hannah Beyer erklärt.

Grüne setzen Schwerpunkt auf Gewaltpräventionsambulanz

Die CDU betont, viele Punkte aus dem Zehn-Punkte-Papier seien bereits im Haushalt verankert. Jan Kürschner berichtet von einem geplanten Modellprojekt, das für die Grünen ein Schwerpunkt sei: Ein multidisziplinäres Team mit forensischer Erfahrung aus Psychiatrie, Psychologie und sozialer Arbeit soll in aufsuchender Arbeit, präventive Hilfsangebote in Form von Aufklärung, Trainings und Therapien anbieten. Kürschner: „Bislang wurde sich um Personen, die zu Gewalt neigen, im Vorfeld noch nicht ausreichend gekümmert.“

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