Flensburg

WG statt Wohnheim: Menschen mit geistiger Behinderung testen das Stadtleben

WG statt Wohnheim: Menschen mit geistiger Behinderung testen das Stadtleben

Menschen mit geistiger Behinderung testen das Stadtleben

Mira Nagar/shz.de
Flensburg
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Sintje Wirsing und Herbert Bülow von den Mürwikern wohnen seit einem Jahr in einer WG. Foto: Mira Nagar/shz.de

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Vier Menschen mit kognitiven Einschränkungen wohnen in einer Wohngemeinschaft direkt in der Flensburger Innenstadt. Eine Notlösung, die zum Modell-Projekt werden könnte.

Der helle Holztisch ist gedeckt mit Trauben, Tomaten, Käse und Salami. Herbert Bülow hat das Körnerbrot aufgeschnitten und in einen gelben Plastikkorb gelegt. Der 57-Jährige und seine Mitbewohnerin Sintje Wirsing laden heute in ihre Küche am Südermarkt ein. Eine ganz normale WG-Küche, nur aufgeräumter. Die Namen der WG-Bewohner hängen auf bunten Schildern am Kühlschrank – mit Piktogrammen darunter, wer mit dem Haushalt dran ist. In dieser Woche kleben die Bilder von Staubsauger und Co. unter dem Namen Sintje. „Jeder ist mal dran“, sagt die 33-Jährige.

Seit einem Jahr wohnen Herbert Bülow und Sintje Wirsing mit zwei weiteren Mitbewohnern in ihrer ersten WG mit selbst geführtem Haushalt. Denn nach dem Auszug von zu Hause haben sie bisher im Wohnheim für Menschen mit Beeinträchtigung gelebt.

Wohnheim musste schließen

Es war eine Verkettung von unglücklichen Umständen, die zu dem geführt haben, was auch als Flensburger Modell-WG bezeichnet werden könnte. Und so wurde aus dem Problem eine Herausforderung – und am Ende vielleicht sogar ein Vorbild für andere.

Dass Menschen mit geistiger Behinderung fast selbstständig zusammen wohnen, ist in Flensburg eher eine Ausnahme. Für ein paar Stunden in der Woche schauen Betreuerinnen und Betreuer vorbei, doch die hauswirtschaftliche Versorgung fällt weg.

Die vier Mitbewohner zogen recht plötzlich vom ländlichen Wohnheim in die Stadt-WG. Ihre Einrichtung in Dollerup mussten sie räumen, als das Gebäude zwar schon verkauft war, der geplante Neubau in Handewitt aber noch nicht stand. Der Einrichtungsbetreiber, die Mürwiker GmbH, suchte nach kurzfristigen Lösungen – das WG-Leben könnte man also als Notlösung bezeichnen. Doch eigentlich ist die Wohngemeinschaft mehr als das.

Tagsüber sind die Mitbewohner meist unterwegs. Sintje Wirsing stellt in einem Werkstattbetrieb aus Drähten verschiedener Dicke Laufbänder her, beispielsweise für Pizzaöfen. Sie liebt außerdem Musik und ist Teil der Mürwiker Band, wie sie stolz berichtet. Herbert Bülow ist tagsüber damit beschäftigt, Deckel auf Elektro-Kästen zu montieren. Danach geht es in die gemeinsame Wohnung. Oft essen sie aber getrennt in den großen Zimmern, berichten beide. Nur manchmal wird am Wochenende zusammen gefrühstückt.

Wohnschule hilft beim Start ins WG-Leben

Sintje Wirsing hatte schon vorher die Idee, selbstständig zu wohnen. „Ich wollte mit meinem Verlobten zusammenziehen“, berichtet sie. Das Paar ließ sich beraten, ob das klappen könnte, entschied sich aber dagegen. Inzwischen weiß sie: Möglich ist ganz viel. Pakete annehmen für Nachbarn, einkaufen, der Umgang mit Geld.

Zu Beginn lernte die WG das Wohnen gemeinsam mit Maike Krakat von der Wohnschule der Husumer Horizonte aus Nordfriesland. Dafür kam die Betreuerin extra nach Flensburg und trainierte mit den Bewohnern, die zu Beginn noch zu Fünft waren. „Unsere Fragen sind: Wie kann ich wohnen? Wo kann ich wohnen?“, erklärt sie. Denn die Frage nach Wohnung oder Wohnheim ist für viele nicht ganz leicht. „Viele glauben, man muss lesen können, um eigenständig zu wohnen, doch das muss gar nicht unbedingt sein.“

Dennoch brauchen die WG-Partner bei einigen Dingen Assistenz. „Das mit dem Geld einteilen klappt noch nicht ganz“, erklärt Olaf Sakuth. Jeder bekommt das Geld daher wochenweise ausgezahlt. Hinzu kommt, dass sich manche mit Rundum-Begleitung einfach sicherer fühlen. Der fünfte Bewohner aus der WG entschied sich nach einiger Zeit lieber für ein Zimmer mit mehr Betreuung und zog um – auch das ist aber eine wichtige persönliche Erkenntnis.

Freie Wahl der Wohnform

In der UN-Behindertenrechtskonvention ist festgelegt, dass Menschen mit Behinderung ihren Wohnort so frei wie möglich wählen können müssen.

In Flensburg ist das Angebot außerhalb von Elternhaus oder Wohnheim allerdings stark eingeschränkt. Inklusions-WGs, wie es sie in anderen Städten gibt, sind weder bei der Mürwikern noch beim Holländerhof bekannt.

Maike Krakat erklärt, dass ein Zusammenziehen von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf im besten Fall Vorbereitung für alle braucht. „Dazu gehört auch, sich abgrenzen zu können, denn viele sehen Betreuer als ihre Freunde.“ Entsprechend seien schnelle Wechsel nach wenigen Semestern wie in manchen Studi-WGs keine gute Voraussetzung für Inklusions-Gemeinschaften.

Oftmals seien es aber die Eltern, die den erwachsenen Kindern mit Behinderung die Selbstständigkeit nicht ganz zutrauten, berichtet Olaf Sakuth. Maike Krakat ergänzt: „Viele Eltern fragen: Was ist, wenn sie nach 20 Uhr noch ausgehen?“

Wechselnde Begeisterung

Auch hat die WG in der Innenstadt nicht nur positive Aspekte: In Herbert Bülows Zimmer sieht die Welt geordnet aus. Eine Sammlung mit Modellautos, Sitzmöbel, ein schmales Bett. Draußen hingegen gibt es Party-Trubel und immer wieder Polizei auf dem Marktplatz: „Da ist immer etwas los, dort soll auch Drogenhandel sein“, berichtet Herbert Bülow. „Und morgens kommen die orangenen Fahrzeuge.“

„Erstmal waren sie weniger begeistert und dann total begeistert“, berichtet Olaf Sakuth. Inzwischen steht aber fest: Sobald das neue Wohnheim in Handewitt steht, löst sich auch die Südermarkt-WG auf. Sintje Wirsing freut sich, dort wieder in der Nähe ihres Verlobten zu wohnen – und auch nicht mehr drei direkte Mitbewohner zu haben. „Daran musste ich mich erstmal gewöhnen“, sagte sie.

Wann genau der Umzug nach Handewitt möglich ist, ist indes unklar. Denn fertig ist das neue Wohnheim noch nicht. „Erst hieß es Mitte September, aber das hielt ich von vorn herein für utopisch“, sagt Sintje Wirsing – und Herbert Bülow ergänzt: „Ich lass mich überraschen.“

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