Nachkriegszeit

Flüchtlinge: Leben in Flensburg nach dem Zweiten Weltkrieg

Flüchtlinge: Leben in Flensburg nach dem Zweiten Weltkrieg

Flüchtlinge: Leben in Flensburg nach dem Zweiten Weltkrieg

Linda Krüger/shz.de
Flensburg
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Jürgen Nickel kam mit zehn Jahren von der Ostseeinsel Usedom nach Flensburg. In seinem Buch schildert der Autor die Probleme und Nöte der Nachkriegszeit. Foto: Michael Staudt

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Autor Jürgen Nickel berichtet, wie seine Familie als Flüchtlinge nach Flensburg kam.

Jürgen Nickel sitzt am Wohnzimmertisch und blickt auf sein neues Buch, welches er in den Händen hält. In dem 112 Seiten langen Werk „Wir kamen als Flüchtlinge“ schildert der 81-Jährige, wie seine Familie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Flensburg kommt und wie deren Alltag in der neuen Stadt aussieht. Das Cover des grünen Einbands zeigt ein Foto des Autors mit seinem jüngeren Bruder Uwe vor der Turnhalle der Waldschule. Das Buch knüpft an das Ende von Nickels letztem Werk „Und dann kamen die Russen“ an. Neben diesen Büchern veröffentlichte der Autor bereits eine umfangreiche Chronik über den Flensburger Schachklub und ein Buch mit Anekdoten ehemaliger Flensburger Schachspieler.

Lebens-Stationen

Bis zu seinem zehnten Lebensjahr lebt der Flensburger in Seebad Heringsdorf auf Usedom. Als sein Vater 1950 aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrt, verliert dieser durch eine Kriegsverletzung seinen sozialen Status. „Mein Vater war ein sogenannter ,Spätheimkehrer'. Durch die Verletzung stellte er keine Arbeitskraft mehr dar. Der Zuzug nach Usedom wurde ihm nicht gestattet. Schlimmstenfalls hätte er ins Gefängnis gehen müssen, wenn er geblieben wäre“, berichtet Nickel.

Ich habe mich immer gefragt, warum mein Vater uns nicht nachholte. Wir sind mehr oder weniger freiwillig fortgegangen, weil meine Eltern sich sonst hätten trennen müssen.

Jürgen Nickel

Daraufhin zieht der Vater des damals Zehnjährigen nach Flensburg und arbeitet für die Briten und Norweger als Wachmann auf dem Flugplatz Schäferhaus. „Ich habe mich immer gefragt, warum mein Vater uns nicht nachholte. Wir sind mehr oder weniger freiwillig fortgegangen, weil meine Eltern sich sonst hätten trennen müssen“, sagt Nickel. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er Heringsdorf nie verlassen.

Leben im fremden Flensburg

Nickel beschreibt, wie die Flensburger auf seine Flüchtlingsfamilie reagiert haben und wie seine Familie wiederum das Leben in der fremden Stadt wahrgenommen hat. „Jüngere Menschen wissen gar nicht, wie das Familienleben damals war. Sie werden nur abgespeist mit Begriffen wie Wirtschaftswunder“, sagt Nickel.

Die Bezeichnung Schleswig-Holstein hatte der Usedomer vor dem Umzug nie gehört und konnte sich darunter nichts vorstellen. „Ich bin im Dorf den ganzen Tag Barfuß gelaufen und hatte nur ein paar Schuhe. Als mir mein Onkel Flensburg zeigte, schimpfte er, dass ich nicht ohne Schuhe rumlaufen kann“ sagt er und lacht. Trotz der Aufregung verliebte sich Nickel sofort in Flensburg.

Von 1960 bis 1962 wird Nickel zum Lehrer ausgebildet. Vier Semester später fängt er mit 22 Jahren an zu unterrichten. Etwa 70 Kinder lehrt der Flensburger in allen Fächern in einer kleinen Dorfschule. Nachdem sein Vater stirbt, fehlt das Familienoberhaupt. Seine Mutter trifft der Tod ihres Mannes schwer, sodass sie krank wird. „Als ich Anfang 20 war, wurde auch mein jüngerer Bruder krank. Ich wurde ein doppelter Vormund“, erinnert sich der 81-Jährige. 1968 lernt der Autor seine Frau kennen. Sie ist für ihn immer eine große Unterstützung. Seiner alten Heimat Usedom bleibt der Flensburger treu. Bis zu zweimal im Jahr verbringt er Zeit mit seiner Familie auf der Insel.

Vergleich zu heute

Ein Fokus des Buches ist der Vergleich zu gegenwärtigen Problemen in der Gesellschaft. Die Integration von Fremden war früher auch ein Problem. Genauso wie die Wohnungsnot und fehlende Integration von Menschen mit Behinderung im Schulsystem“, sagt der ehemalige Lehrer.

Damals gab es laut Nickel zu wenig Unterstützung vom Staat. „Das Ehepaar Pahnke gehörte zu den Ersten, die eine Perspektive für Menschen mit Behinderung ermöglichten“, erinnert sich der Flensburger. Der Autor entsinnt sich, dass sich seinerzeit besonders die Kirche für Menschen engagiert hat, die der Staat vernachlässigte.

Der Usedomer thematisiert das Problem der Integration von Flüchtlingen und wie schwer es für sie – in der Nachkriegszeit – ist, integriert zu werden. Kurz vor Ende des Krieges lebten 66.000 Einwohner in Flensburg. Als nach dem Krieg Flüchtlinge dazu kamen, stieg die Zahl auf 106.000.

Jüngere Menschen wissen gar nicht, wie das Familienleben damals war. Sie werden nur abgespeist mit Begriffen wie Wirtschaftswunder.

Jürgen Nickel

Auch wenn er es inzwischen nicht mehr so oft spielt wie früher, steht im Wohnzimmer von Nickel ein Standklavier. Wenn er spielt, erinnert sich der Musikliebhaber nicht nur an die Werke der Komponisten, sondern an deren Leben. „Musik hat mich in all diesen Jahren mit am Leben gehalten“, sagt der 81-Jährige.

In Erinnerung bleiben

Die Motivation für den Autor ist bei jedem Buch anders. Erst kürzlich stellte er ein neues Manuskript mit dem Titel „Seebad Heringsdorf in der NS-Zeit“ fertig. Ihm liegt besonders das Schicksal der im Februar 1940 deportierten Juden am Herzen. Für Nickel gibt es mehrere Gründe, warum er weiter schreibt: „Bevor ich nicht mehr hier bin, möchte ich meinen Enkelkindern etwas hinterlassen, damit meine Erinnerungen am Leben bleiben“, sagt der Großvater. Für ihn gibt es keine vergleichbare Erzählung der Nachkriegszeit, die sich flüssig liest. Der Autor hofft, mit seiner Geschichte eine Lücke zu füllen.

 

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