Nahost

«Hölle von Gaza»: Israel ruft zur Flucht gen Süden auf

«Hölle von Gaza»: Israel ruft zur Flucht gen Süden auf

«Hölle von Gaza»: Israel ruft zur Flucht gen Süden auf

dpa
Tel Aviv/Gaza
Zuletzt aktualisiert um:
Israelische Soldaten in Sderot nahe der Grenze zwischen Israel und Gaza. Foto: Ilia Yefimovich/dpa

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Vor der möglichen Bodenoffensive fordert Israel mehr als eine Million Bewohner des Gazastreifens zur Flucht auf. Hilfsorganisationen zeigten sich entsetzt. Auch an der Grenze zum Libanon gab es neue Kämpfe.

Vor der erwarteten Bodenoffensive im Gazastreifen als Reaktion auf Hamas-Gräuel hat das israelische Militär mehr als eine Million Palästinenser zur Evakuierung aufgefordert. «Das Militär ruft alle Zivilisten von Gaza-Stadt auf, ihre Häuser zu ihrer eigenen Sicherheit und zu ihrem Schutz Richtung Süden zu verlassen», sagte Armee-Sprecher Jonathan Conricus am Freitag. Augenzeugen berichteten von Panik unter der Bevölkerung. Hilfsorganisationen reagierten empört.

Das UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) warnte, der Küstenstreifen werde angesichts der massiven israelischen Luftangriffe und der Abriegelung zu einem «Höllenloch und steht am Rande des Zusammenbruchs». Im israelisch besetzten Westjordanland kam es ebenfalls zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften mit zehn Toten und Dutzenden Verletzten.

UN-Chef fordert humanitären Gaza-Zugang

UN-Generalsekretär António Guterres forderte einen sofortigen Zugang zum Gazastreifen für humanitäre Hilfe. «Auch Kriege haben Regeln», sagte Guterres vor Journalisten in New York, bevor er hinter verschlossenen Türen an einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats zu dem Konflikt teilnehmen wollte. «Wir brauchen sofortigen humanitären Zugang zu ganz Gaza, damit wir den Bedürftigen Treibstoff, Nahrung und Wasser zukommen lassen können», forderte er mit Blick auf die israelische Blockade der Küstenenklave.

Guterres sprach sich auch ausdrücklich gegen den Aufruf des israelischen Militärs zur Massenevakuierung des nördlichen Gazastreifens aus. Ein solcher Schritt, der etwa 1,1 Millionen Menschen in dem dicht besiedelten Palästinensergebiet betreffe, sei «extrem gefährlich - und in manchen Fällen auch einfach nicht möglich», sagte Guterres. Er forderte auch die sofortige Freilassung aller von der islamistischen Hamas nach Gaza verschleppten Geiseln.

Journalist bei Gefechten an der libanesischen Grenze getötet

Gefechte gab es auch an der israelisch-libanesischen Grenze. Dort wurde ein Reuters-Journalist durch Beschuss getötet. «Mit großer Betroffenheit haben wir erfahren, dass unser Kameramann Issam Abdallah getötet worden ist», teilte eine Reuters-Sprecherin in London auf Anfrage mit. Zwei weitere Journalisten der Nachrichtenagentur seien verletzt worden. Mindestens vier weitere Medienschaffende wurden bei dem Vorfall verletzt. Der arabische Sender Al-Dschasira bestätigte, dass eine Reporterin und ein Kameramann des Senders unter den Verletzten seien.

In dem Gebiet hatte es zuvor einen Schusswechsel zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah-Miliz gegeben. Von wem der Beschuss zuerst ausging, war zunächst nicht klar. Israels Armee bestätigte einen Angriff mit Panzer- und Artilleriefeuer auf libanesisches Gebiet. Zuvor habe es Attacken aus dem Libanon auf israelische Stellungen gegeben, hieß es. Israelische Soldaten hätten auf Posten der Hisbollah gezielt. Die Schiitenorganisation bestätigte ebenfalls Beschuss auf mehrere Ziele im Nachbarland Israel.

Frist für Evakuierung, weitere Luftangriffe

Das israelische Militär rief die Einwohner der Stadt Gaza am Freitag auf, bis 20.00 Uhr Ortszeit (19.00 Uhr MESZ) ihre Wohngebiete zu verlassen und sich weiter südlich zu begeben. Ein Sprecher der Armee schrieb in arabischer Sprache auf X, man werde eine auf einer Karte eingezeichnete Fluchtroute bis zu diesem Zeitpunkt nicht angreifen. Die Einwohner von Beit Hanun sollten nach Chan Junis gehen, hieß es in der Mitteilung. Man werde weitere Anweisungen veröffentlichen.

Nach Angaben der israelischen Armee sind seit dem Massaker von Hamas-Terroristen im israelischen Grenzgebiet am Samstag mehr als 6000 Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert worden. Israel hat seit dem Großangriff der Hamas mehr als 1300 Tote und mehr als 3000 Verletzte zu beklagen. Hunderte Hamas-Terroristen waren vergangenen Samstag in Israel eingedrungen und hatten dort in Grenzorten und bei einem Musikfestival ein Massaker angerichtet.

Israelische Soldaten stoßen vereinzelt in Gazastreifen vor

Die israelische Armee machte nach eigenen Angaben innerhalb der vergangenen 24 Stunden bereits mehrere begrenzte Vorstöße auf das Gebiet des Gazastreifens. Armeesprecher Daniel Hagari schrieb bei X, vormals Twitter, Ziel dieser Einsätze sei es, «das Gebiet von Terroristen und Waffen zu säubern». Dabei habe es auch Bemühungen gegeben, Vermisste zu finden. Boden- und Panzertruppen hätten nach Spuren gesucht und «Terrorzellen ausgeschaltet».

Die israelische Luftwaffe setzte zudem ihre massiven Angriffe fort. Dutzende Kampfflugzeuge hätten 750 militärische Ziele angegriffen, teilte das Militär am Freitagmorgen mit. Zu den Zielen gehörten demnach unterirdische Tunnel, militärische Einrichtungen, Wohnsitze hochrangiger Terroristen, die als militärische Kommandozentralen genutzt würden sowie Waffenlager.

WHO: Für Schwerkranke kommt Evakuierung einem Todesurteil gleich

Ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wies in Genf darauf hin, dass die Verlegung von schwer kranken und schwer verletzten Patienten aus dem nördlichen Gazastreifen unmöglich sei. «Solche Menschen zu transportieren, kommt einem Todesurteil gleich», sagte Sprecher Tarik Jasarevic.

Die Zahl der bei israelischen Angriffen im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist auf mindestens 1900 gestiegen. Das teilte das dortige Gesundheitsministerium mit. Unter den Opfern seien 614 Kinder und Jugendliche. Mindestens 7696 weitere Menschen wurden demnach verletzt. Die Krankenhäuser, denen der Strom ausgeht, seien überfüllt. Medikamente würden ebenso wie Trinkwasser und Nahrungsmittel wegen der Abriegelung durch Israel knapp.

Im Fernsehen war zu sehen, wie Menschen in Autos, auf Lastwagen, mit Eselskarren und zu Fuß auf der einzigen Hauptstraße des Gazastreifens Richtung Süden unterwegs waren. Die Vereinten Nationen forderten Israel auf, die Anweisung zur Evakuierung zu widerrufen. Es drohe eine «katastrophale Situation», sagte ein UN-Sprecher. Es war völlig unklar, wo die vielen Menschen im Süden des Gazastreifens bleiben und versorgt werden sollten.

Hamas behauptet: 13 Geiseln bei israelischen Luftangriffen getötet

Nach Angaben des militärischen Arms der Hamas im Gazastreifen sollen 13 der rund 150 aus Israel verschleppten Geiseln bei israelischen Luftangriffen getötet worden sein. Darunter sollen auch ausländische Staatsangehörige sein, behaupteten die Al-Kassam-Brigaden in einer Stellungnahme. Unabhängig konnten diese Angaben nicht überprüft werden. Die israelische Armee wollte den Bericht prüfen.

Baerbock: «Wir sind alle Israelis»

Außenministerin Annalena Baerbock versicherte Israel bei einem Besuch die volle deutsche Solidarität. «In diesen schrecklichen Tagen stehen wir an Ihrer Seite und fühlen mit Ihnen. In diesen Tagen sind wir alle Israelis», sagte die Grünen-Politikerin bei einem Treffen mit ihrem israelischen Kollegen Eli Cohen in Netivot in Südisrael in der Nähe der Grenze zum Gaza-Streifen. «Israels Sicherheit ist für uns Staatsräson.» Am Nachmittag mussten Baerbock und ihre Delegation in Tel Aviv wegen eines Raketenalarms zeitweise in einen Schutzraum.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sicherte Israel weitere militärische Unterstützung zu. «Wir haben die US-Kampfflugzeugstaffeln im Nahen Osten aufgestockt, und das US-Verteidigungsministerium ist voll und ganz bereit, bei Bedarf zusätzliche Mittel einzusetzen», sagte er bei einer Pressekonferenz mit Israels Verteidigungsminister Joav Galant.

In überwiegend islamisch geprägten Ländern wie Ägypten, Jordanien, dem Irak, Pakistan oder dem Jemen wurde für die Rechte der Palästinenser demonstriert. So schwenkten bei landesweiten Kundgebungen Demonstranten in Pakistan palästinensische Flaggen und skandierten Protest-Slogans gegen Israel, wie Fernsehbildern zeigten.

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Kommentar

Jakob Münz
Jakob Münz Praktikant
„Das ist also der Deutsche Tag“