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Bosnien trauert: „Mütter von Srebrenica“ verlieren ihre Gründerin

Bosnien trauert: „Mütter von Srebrenica“ verlieren ihre Gründerin

Bosnien trauert: „Mütter von Srebrenica“ verlieren ihre Gründerin

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
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Foto: dpa

Nur zwei Jahrzehnte ist es her, als der Zivilisationsbruch in Bosnien zu einem Genozid wuchs. Bis heute bleibt es nahezu unbeschreibbar, wozu Menschen fähig waren. Europa hat die Verpflichtung, nach dem Genozid, der vor unser allen Augen geschah, den Westbalkan nicht allein zu lassen, meint Jan Diedrichsen.

In der vergangenen Woche ist Hatidža Mehmedovi im Alter von 66 Jahren verstorben. Vor 22 Jahren verlor sie ihre beiden Söhne Azmir und Almir, ihren Ehemann, ihre Brüder und zahlreiche männliche Familienmitglieder. Sie alle wurden im blutigen Sommer 1995 ermordet. Sie ereilte dasselbe Schicksal, wie 8.000 andere – fast ausschließlich Männer und Jungen zwischen 13 und 78 Jahren, die in der Gegend von Srebrenica ermordet wurden. Das Massaker an den muslimischen Bosniern wurde trotz Anwesenheit von Blauhelmsoldaten verübt. 

Die Täter vergruben tausende Leichen in Massengräbern. Mehrfache Umbettungen in den darauffolgenden Wochen sollten die Taten verschleiern.

Beinah zwei Jahrzehnte suchte Hatidža unermüdlich nach ihrer Familie. Ihre beiden Söhne und ihr Ehemann wurden am 11. Juli 2010 in Potocari beerdigt, nachdem die Überreste in Massengräbern gefunden worden waren. 
Vor einem Jahr besuchte ich Hatidža. Sie hat trotz ihres furchtbaren persönlichen Schicksals in all den Jahren kein Wort des Hasses verloren oder Vergeltung verlangt. Ich vergesse nie, wie diese ernste und dabei so würdevoll auftretende Frau über die unvorstellbaren Leiden, mit einer beinah stoischen Ruhe berichtete. Wie oft sie an den Massengräbern von Srebrenica gestanden haben mag und den vielen Menschen, die sie aufsuchten, über das Schicksal ihrer Familie zu berichten?  

Wozu der Hass zwischen Nationalitäten und zwischen Minderheiten und Mehrheiten führen kann, wird an den Massengräbern von Srebrenica manifest. 

Bis zu ihrem Tod blieb Hatidža als langjährige Mitarbeiterin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und Präsidentin der „Srebrenica-Mütter“ eine aktive Mahnerin wider des Hasses und des Völkermordes. Sie identifizierte sich weltweit mit allen Opfern von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Namen der GfbV appellierte sie immer wieder weltweit für die Beendigung der Kriege im Sudan, in Syrien, im Irak, in Burma und anderen Orten. Sie hinterließ einen tiefen Eindruck auf viele Menschen. Die amerikanische Schauspielerin Angelina Jolie schrieb in der vergangenen Woche in einem Nachruf auf CNN: 

„Es gibt Zeiten, in denen über die Lehren aus dem Völkermord in Srebrenica nachgedacht wird – darüber, wohin gewalttätiger Hass gegen eine Gruppe oder einzelne Menschen führen kann. Doch heute, wenn Hatidža zur letzten Ruhe begleitet und von ihrem Land betrauert wird, ist der Moment, über die Kraft eines einzelnen Lebens nachzudenken. Hatidža Mehmedovi lebte ein ehrliches Leben. Sie erlaubte niemandem, sie einzuschüchtern oder ihren Sinn für Wahrheit und Fairness zu trüben. Wir werden auch in unseren Leben womöglich niemals Gerechtigkeit erfahren, doch wir handeln richtig, wenn wir ihrem Beispiel folgen.“

Nur zwei Jahrzehnte ist es her, als der Zivilisationsbruch in Bosnien zu einem Genozid wuchs. Bis heute bleibt es nahezu unbeschreibbar, wozu Menschen fähig waren, die nur wenige Wochen zuvor als Nachbarn friedlich ihren späteren Opfern gegenübertraten. 

Noch immer sind der Hass und die Angst in Bosnien-Herzegowina – das durch das Dayton Abkommen 1995 als Staat entstand – nicht besiegt. Ganz im Gegenteil: Die Zukunft des gesamten Westbalkans ist ungewiss und äußerst fragil. Die Nationalitäten kommen sich nicht näher. 

Minderheiten und Mehrheiten sind weit davon entfernt, von Feinden zu Freunden zu werden. Europa hat die Verpflichtung, nach dem Genozid, der vor unser allen Augen geschah, den Westbalkan nicht allein zu lassen. 
 

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