Nordirland

Vom EU-Monster und Brexit-Gewinnern

Vom EU-Monster und Brexit-Gewinnern

Vom EU-Monster und Brexit-Gewinnern

dpa
Belfast
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Ein Graffiti an einer der Peace Walls (Friedensmauern) wirbt für eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland. Foto: Larissa Schwedes/dpa

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Eigentlich ist der Brexit abgehakt - doch London und Brüssel streiten weiter erbittert über den ewigen Zankapfel Nordirland. Unterwegs in einem Land, das nicht zur Ruhe kommt.

Die Gewinner der Brexit-Saga arbeiten in einem unscheinbaren Haus an einer nordirischen Landstraße, das durchaus eine Renovierung vertragen könnte. Auf der Hauswand in großen blauen Lettern steht der Firmenname Derry Bros geschrieben.

Colin Rodd und seine Kollegen machen hier das, was für ihre Kunden über Nacht zur einer neuen, lästigen Pflicht geworden ist: die Zollabfertigung. Innerhalb weniger Monate sind sie von drei auf 30 Mitarbeiter angewachsen. Sind sie Gewinner des Brexits? Überzeugtes Kopfnicken in der Firmenzentrale. «Auf jeden Fall. Ohne wären wir nicht hier.»

Mit ihrer Erfolgsgeschichte ist Derry Bros in Nordirland eher die Ausnahme. Für viele Unternehmen sind die Dinge seit dem Brexit deutlich komplizierter geworden. Robert Bell, der in Belfast einen Kaffee- und Tee-Verkauf betreibt, sagt: «Je weniger ich aus Großbritannien beziehe, desto besser.»

Siobhan Reel, die in der Region Newry im Süden des britischen Landesteils seit mehr als 20 Jahren mehrere Cafés und einen Schuhladen hat, schlingt ihre Arme um den eigenen Körper und kauert sich zusammen. «So fühle ich mich», sagt sie - als müsse sie sich, ihre Mitarbeiter und ihren Betrieb in diesen Zeiten vor dem Kollaps beschützen. Viele ihrer Beschäftigten aus der Fabrik aus Europa sind nicht mehr im Land und fehlen nun. «Nach all diesen Jahren fange ich wieder von vorn an und stehe selbst in der Küche.»

Die Ex-Bürgerkriegsregion spielt nach dem Brexit eine Sonderrolle. Zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland verläuft nun eine EU-Außengrenze. Doch die darf auf keinen Fall mit Grenzposten sichtbar sein, damit sie nicht zur Zielscheibe wird, wo die Spannungen zwischen den meist protestantischen Unionisten und den katholischen Nationalisten gewaltsam auflodern können. Der Kompromiss heißt: Nordirland-Protokoll. Er besagt, dass Kontrollen stattdessen an der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien stattfinden und Nordirland weiter den Regeln des EU-Binnenmarktes folgt. Teils werden diese Regeln noch immer nicht umgesetzt, was für immer neuen Streit zwischen Brüssel und London führt.

Das Nordirland-Protokoll ist heiß umstritten. Man kann nicht durchs Land fahren, ohne nach wenigen Kilometern dem Slogan «No Irish Sea Border» (deutsch: «Keine Grenze in der Irischen See») zu begegnen, der sich auf Plakaten und Hauswänden in unionistisch geprägten Vierteln wiederfindet. Dort wohnen zwischen flatternden Union Jacks, blau-rot-weiß angemalten Bürgersteigen jene, denen eine möglichst enge Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich wichtig ist. Durch die neuen Kontrollen fühlen sie sich abgeschnitten.

«Endlich frei, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen»

Einer von ihnen ist der Rentner Stephen Gough, der im Osten von Belfast das Peppercorn Café betreibt. Ob alles nicht einfacher wäre, wenn der Brexit nicht passiert wäre? Er schüttelt vehement den Kopf. «Wir sind frei von Einmischungen der EU, endlich frei, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen.» Die EU, das sei am Anfang eine gute Idee gewesen, aber irgendwann zum «Monster» geworden. «Ich würde nicht in Nordirland bleiben, wenn es irisch würde. Ich will britisch sein. Niemand will als Gefangener leben», sagt Gough.

Die Nationalisten dagegen wollen wieder zu Irland gehören. «Wiedervereinigung zu unseren Lebzeiten» («Unity in Our Time») steht als Graffiti auf einer der Peace Walls (deutsch: Friedensmauern) zwischen den Vierteln im Westen von Belfast. Sicherheitstore schließen jede Nacht die Fronten zwischen beiden Lagern.

In Londonderry beginnt die Uneinigkeit schon beim Namen: Von Katholiken wird die Stadt nur Derry genannt. Der Kurator des Museums of Free Derry, das die gewaltsamen Ereignisse rund um den «Bloody Sunday» im Jahr 1972 einordnet, rechnet fest damit, dass Nordirland sich nach einer Volksabstimmung in einigen Jahren mit der Republik Irland wiedervereinigen wird - aber auch, dass das nicht ohne Gewalt geschehen wird. «Aber das war immer unausweichlich», sagt er. Nordirland würde bei einer Wiedervereinigung wieder Teil der EU und der Brexit wäre für die Bürger, die mit klarer Mehrheit gegen ihn gestimmt hatten, Geschichte. Dafür nimmt Kerr in Kauf, dass es auf den Straßen von Derry wieder rauer zugehen könnte. Andere wollen die Gräben der Vergangenheit überwinden.

Eine von ihnen ist die 59-jährige Geraldine Doherty, die in einem katholisch geprägten Viertel von Derry im Kulturzentrum An Chroi arbeitet, was auf Deutsch so viel heißt wie «Herz der Gemeinschaft». Als sie 11 war, schlug eine Bombe in den Hauseingang ihrer Familie ein, später wurde ihr Onkel in einer Bar ein paar Straßen weiter erschossen. «Ich bin während der Troubles aufgewachsen», erzählt Doherty. Sie könne die Leute, die gerade einmal zehn Minuten entfernt im protestantischen Viertel wohnen, natürlich ihr Leben lang hassen. Aber sie hat sich entschlossen zu vergeben.

Auch für Colin Rodd von der Zollfirma ist die Sache klar: «Hört auf, die Flaggen anzustarren, und konzentriert euch aufs Geschäft.» Selbst für die unliebsamen Hürden an der Irischen Seegrenze hat er schon eine Geschäftsidee. Darüber darf er aber noch nicht reden.

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Kommentar

Jakob Münz
Jakob Münz Praktikant
„Das ist also der Deutsche Tag“