Leitartikel

„Moral kennt keine Kultur“

Moral kennt keine Kultur

Moral kennt keine Kultur

Apenrade/Aabenraa
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Kultur und Identität stehen heute oft im Zentrum der Debatte und werden auch als Argumente in ethisch-moralischen Auseinandersetzungen benutzt. Dabei übersehen wir, dass sie gerade das niemals sein können, meint Cornelius von Tiedemann, in dessen provokantem Leitartikel es auch um die Wurst geht.

Wir neigen dazu, Verhalten, auch moralisch fragwürdiges Verhalten, kulturell zu rechtfertigen. Wir handeln so oder so, weil es Teil unserer Traditionen, unserer Kultur ist.

Dabei vergessen wir allzu oft, dass Kulturen sich mit unseren Erkenntnissen, auch über Moral, verändern. Fortschritt nennen wir das. Schließlich haben auch wir uns hier im heutigen Grenzland seit den rauen Umgangsformen der Wikingerzeit oder seit der Abkehr von der bis in die Moderne anhaltenden systematischen Unterdrückung der Frauen enorm weiterentwickelt.

Wir ignorieren aber nicht nur gern den Fortschritt, wir übersehen allzu häufig auch den Unterschied zwischen Ursache und Legitimität.

Wir geraten also zum Beispiel in die Situation, Unrecht mit seinen Ursachen zu rechtfertigen – nicht aber damit, moralisch anerkennungswürdig zu sein.

Zum Beispiel rechtfertigen wir Massentierhaltung (und Massentiertötung) mit unseren Essgewohnheiten, die wir als Teil unserer Kultur betrachten. Kulturell haben wir also eine Antwort parat. Ein ethisches Argument ist das aber nicht.

Denn Moral, beziehungsweise Ethik, ist universell, sie kennt keine Kultur. Unmoralisches Handeln können wir also mit Kultur begründen – aber niemals mit ihr legitimieren.  

Natürlich müssen wir, um überhaupt sozial funktionieren zu können, Nachsicht walten lassen, mit uns selbst und mit unseren Zeitgenossinnen und -genossen. Wer unter uns ohne Sünde ist …

Doch wir können uns nicht der Einsicht verweigern, dass wir als moderne, denkende Menschen dazu verpflichtet sind, wenigstens zu versuchen, unser Handeln an unseren ethisch-moralischen Erkenntnissen auszurichten.  

Sich dem zu verweigern hieße, das zu verleugnen, was uns als Menschen ausmacht. Nämlich die Fähigkeit, äußerst flexibel zu denken und zu handeln – und somit auch moralischen Fortschritt zu machen.

Selbst – oder gerade – wer, ganz im Sinne unserer hiesigen Kultur, an den christlichen Gott glaubt, muss dafür eintreten, dass wir diese, dem Glauben nach gottgegebene, Stärke beziehungsweise Gabe nicht verleugnen dürfen.

Wir können mit Sicherheit annehmen, dass die Menschen der Zukunft mit Abscheu zum Beispiel darauf blicken werden, wie wir mit Tieren umgehen.

Eine Anlage wie die Schlachterei in Blans, wo täglich fast 10.000 nur zu diesem Zweck gezüchtete Schweine getötet, zerlegt, verpackt und ihre Körperteile in aller Herren Länder verschickt werden, wird ihnen, obwohl sie alle geltenden Tierschutz-Gesetze einhält, barbarisch erscheinen.

Schon heute erkennen wir dies, und es ist deshalb kein Zufall, dass auf Schweinetransporten oder den Produkten im Supermarkt keine Bilder aus Schlachthäusern, sondern höchstens verharmlosende Bilder glücklicher Schweine zu sehen sind.

Die Massentötungen von Tieren sind Teil der Wirklichkeit, in der wir leben. Wir nehmen sie aber nicht als Teil unserer individuellen Welt wahr.

In unseren Welten sind wir mitfühlend und gerecht, und Schweinefleisch kommt aus dem Kühlfach bei Brugsen oder Netto.

Natürlich gibt es auch Menschen, nicht zuletzt diejenigen, die in der sogenannten fleischverarbeitenden Industrie tätig sind, für die die Massentötungen Teil ihrer Welt sind – und die sie in unterschiedlicher Weise für sich rechtfertigen. Und sei es damit, dass einer den Job ja machen müsse.

Es darf in der Debatte darum, was Kultur rechtfertigen kann und was nicht, denn auch niemals darum gehen, andere wegen ihres mit Kultur oder Tradition begründeten Handelns als un- oder gar amoralisch abzustempeln.

Vielmehr geht es darum, Aspekte unserer Kultur zu hinterfragen und mit unserem Wissensstand über Ethik und Moral abzugleichen, um Türen zu öffnen. Türen wie die, die zur Gleichstellung der Frau, zum Verbot der Sklaverei, zur Erklärung der Menschenrechte, zur Aufklärung, zur Demokratie oder auch zum friedlichen Miteinander im dänisch-deutschen Grenzland geführt haben. 

Über all diesem steht dann die Tatsache, dass wir als Menschen zu moralischem Denken und Handeln fähig und verpflichtet sind. Alles andere wäre unethisch.

Wir sind also dazu verpflichtet, unsere Einsichten auch anderen Menschen und sogar anderen Lebewesen zugutekommen zu lassen. Gerade auch jenen, die nicht selbst dazu in der Lage sind, sie für sich zu beanspruchen.

Unserer oft etwas ungenau als „christlich-abendländisch“ bezeichneten Kultur würde das nicht schaden – und vor allem nicht widersprechen. Im Gegenteil.

 

 

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