Leitartikel

„Lippenstift und Tour de France “

Lippenstift und Tour de France

Lippenstift und Tour de France

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Angesichts des Tour-de-France-Fiebers, das aktuell in Dänemark herrscht, hält es Siegfried Matlok für angebracht, vier Geschichten aus der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, die Anlass zum Nachdenken geben.

Dänemark ist im gelben Tour-de France-Fieber – auch Nordschleswig mit dem Etappenziel Sonderburg. Dass die Wahl als Startort 2022 auf Dänemark fiel, hing von mehreren Faktoren ab – nicht nur vom üppigen Startgeld von den beteiligten Kommunen für die Veranstalter. Dänemark sieht sich – trotz der radelnden Konkurrenz aus Holland – natürlich weltführend als „Cykelland“ und wird im Ausland auch als Nation der Radfahrer gesehen und bewundert. Bilder, wie der damalige Staatsminister Lars Løkke gemeinsam mit Frankreichs Präsident Macron über die Kopenhagener „Cykelbrücke“ fuhr, haben sicherlich auch nach außen hin ihre Wirkung nicht verfehlt.

Vier kleine – teils nachdenkliche – Geschichten sollten aus diesem Anlass mal in Erinnerung gebracht werden: die Faszination Tour de France ist ja auch begründet in der Bewunderung für die sportliche Gesamtleistung der Teilnehmer über Tausende von Kilometern von Kopenhagen bis Paris, dabei hat man jedoch ein unglaubliches Ereignis vor fast 100 Jahren ganz vergessen.

  1. Ruth Berlau war eine bekannte dänische Journalistin, Schauspielerin, Regisseurin, Fotografin und Schriftstellerin, die nicht durch ihre jahrelange Zusammenarbeit bei Theaterstücken, sondern auch durch ihre (unglückliche) Liebesbeziehung zum weltberühmten Dramatiker Bertolt Brecht Kulturgeschichte geschrieben hat, den sie 1933 auf Thurø bei Svendborg kennengelernt hatte. Unbekannt ist hingegen, dass die aus Hellerup stammende Ruth Berlau 1929 mit dem Fahrrad von Kopenhagen nach Paris fuhr, ausgestattet unter anderem mit einem Revolver zur eigenen Sicherheit. „Ekstra Bladet finanzierte die Reise, bezahlte ihr 25 Øre pro Zeile für spannende Auslandsberichte, die unter der Überschrift „Med Ruth og Fut på Eventyr’“ erschienen. In Paris wurde Ruth Berlau von der französischen Presse mit der Schlagzeile begrüßt: „Ein dänisches Mädchen kommt allein auf dem Fahrrad von Kopenhagen nach Paris, um sich einen Lippenstift zu kaufen.“ Die Journalistin wurde mit großen Ehren empfangen und über Nacht von Paris bis Kopenhagen berühmt, später fuhr die junge Kommunistin  – ermutigt vom großen Erfolg – für die Tageszeitung  „Politiken 1930 sogar auf dem Fahrrad nach Moskau. Sie starb 1974 und ist in Ost-Berlin begraben.
  2. Das Fahrrad, das 1817 vom Mannheimer Forstbeamten Karl Drais als Laufmaschine/ Alternative zum Reitpferd erfunden worden war und 1875 aus England  kommend erstmalig auf dänischen Straßen auffiel, hatte einst auch seine militär-strategische Bedeutung. Während der deutschen Besatzungszeit 1940-1945 führte die deutsche Wehrmacht im Oktober 1944 in Kopenhagen eine Groß-Razzia bei allen dänischen Fahrradhändlern durch, um so viele „Drahtesel“ wie möglich zu beschlagnahmen. Zur Begründung hieß es angeblich, die Fahrräder sollten so schnell wie möglich an die Westfront gebracht werden, um so den deutschen Soldaten den Heimweg zu erleichtern.
  3. Längst gehört es zum normalen Stadtbild in Kopenhagen, dass bekannte Politiker auf Christiansborg nicht mit dem Privatwagen, sondern mit dem Fahrrad ankommen. Das Fahrrad hat auch schon politisch Karriere gemacht: man denke nur an Jacob Haugaard, der sensationell ein Folketingsmandat gewann, weil er seinen Wählern Rückenwind auf allen Fahrradwegen (!) versprach. Oder an Staatsminister Poul Nyrup Rasmussen, der – wie manche behaupten – eine Folketingswahl verlor, weil er sich 1995 bei einer Fahrrad-Demonstration gegen französische Atomwaffen auf der Strecke Aarhus-Odder mit einem viel zu engen Fahrrad-Helm ausstatten ließ, der ihn – vorsichtig ausgedrückt – ziemlich blöd aussehen ließ.
  4. Für viele im Ausland gehört „Cykelland“ Dänemark  zum fleißig PR-gehypten dänischen Image von „Hygge“. Die Vorteile für die Volksgesundheit und die Umwelt sind  –  gerade in diesen Zeiten höchster Energiepreise – wahrlich nicht zu unterschätzen, doch manchmal wird das dänische Fahrrad leider auch politisch missbraucht  – im Ausland!  Jüngstes Beispiel: die frühere amerikanische Botschafterin in Dänemark, Carla Sands – jene Diplomatin, die US-Präsident  Trump zum Kauf von Grönland animierte –  hat kürzlich in einem Tweet die Behauptung aufgestellt, dass die hohe Zahl der Radfahrer in der dänischen Mittelschicht nur auf die viel zu teuren Preisen für die Autos zurückzuführen ist. Sie erinnerte in einem Tweet daran, dass ihr eigener Botschafts-Fahrer im Winter oft eine Stunde mit dem Fahrrad benötigte, um in Kopenhagen zur Arbeit zu kommen. Das sei die Zukunft, die das Team Biden den Amerikanern verspricht, so die glühende Trump-Anhängerin.

Vielleicht sollte man ihr und denen, die der „Tour de France“ und dem Rad böswillig in die Speichen greifen, mein Lieblingslied von Max Raabe „Fahrrad fahr´n“ empfehlen:

„Manchmal ist das Leben ganz schön leicht
Zwei Räder, ein Lenker und das reicht
Wenn ich mit meinem Fahrrad fahr'
Dann ist die Welt ganz einfach“

Gute Fahrt!

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