Zeitgeschehen
Vom Feind zum Freund
Vom Feind zum Freund
Vom Feind zum Freund
Vor 75 Jahren ging Sepp Ittner aus Augsburg in Hadersleben an Land. Zwei Wochen lag sein Schiff, der Dampfer „Main“, dort vor Anker. „Es waren wunderbare Tage, an denen ich viele liebenswerte Menschen kennengelernt habe“, erinnert sich der 95-Jährige, der einer der letzten Zeitzeugen ist.
Anfang Mai feierte Dänemark die Befreiung von den deutschen Besatzern – für Sepp Ittner ein willkommener Anlass für einen Blick zurück.
„Ich bin ja wohl einer der letzten Zeitzeugen, noch ganz gut beisammen – und ich habe viel zu erzählen“, sagt der 95-Jährige in einem Gespräch mit dem Nordschleswiger.
Die letzte Reise
Vor 75 Jahren, am 5. Mai 1945, ging der damals 20-jährige Stuart des Dampfers „Main“ in Hadersleben an Land. Es sollte die letzte große Reise des Flüchtlingsschiffes werden. An Bord: Familien hochrangiger NS-Funktionäre.
„Es war das einzige Mal, dass wir ihre Familien an Bord hatten“, erinnert sich Ittner. Ansonsten handelte es sich bei den Passagieren der „Main“ um Flüchtlinge, die die Mannschaft vom Oktober 1944 bis Mai 1945 in Riga, Königsberg und Danzig an Bord nahm und in sichere Häfen wie Rostock, Lübeck und Warnemünde brachte.
Auch den Haderslebener Hafen lief der Dampfer im Mai vor 75 Jahren an.
An Bord herrschten während dieser letzten Kriegsmonate kümmerliche Zustände. Zahlreiche Flüchtlinge drängten sich unter Deck. „Nicht einmal Toiletten gab es an Bord“, erzählt der einstige Stuart.
Die Mannschaft zeigte sich indes erfinderisch: Aus Wehrmacht-Schränken schlug die Besatzung die Rückwände heraus und hängte sie wie eine Rutsche über die Reling.
„Somit konnten die Leute in die Schränke gehen und sich dann ins Meer erleichtern. Sie waren uns unendlich dankbar.“
Keine Ressentiments
Am 5. Mai 1945 warf die „Main“ in der Haderslebener Förde Anker. „Niemand hat sich dort um uns gekümmert“, lacht Ittner. Weder die Dänen noch die Briten, die damals die Stadt bevölkerten. Ressentiments gegen das Flüchtlingsschiff aus Deutschland und seine Besatzung habe es nicht gegeben:
„Ich habe so etwas nicht ein einziges Mal erlebt“, sagt Ittner.
Kisten gegen Fische
Die Mannschaft der „Main“ war auf sich gestellt – und machte das Beste draus. Von einem benachbarten deutschen Bagger im Haderslebener Hafen, dessen Arbeiter sich aus dem Staub gemacht hatten, holte sich die Crew, was nicht niet- und nagelfest war: Geschirr, Stühle und graue Farbe, die sie sich redlich mit einem dänischen Polizisten teilte. Farbe war, wie so vieles andere damals, ein seltenes Gut.
Verkappte Fliegerbomben
Auch in anderer Hinsicht improvisierte die Mannschaft des Dampfers während jener Tage im Mai des Jahres 1945. Auf See verkappte sie die Fliegerbomben, die sie an Bord hatte. Die Kisten aus Hartholz, die als Aufbewahrung für die Munition dienten, tauschte die Crew bei dänischen Fischern gegen frischen Fisch.
„Die Fischer waren ganz verrückt nach unseren Kisten. Diese waren für sie mehr wert als ihre herrlichen Fische“, erinnert sich der Augsburger kopfschüttelnd.
Lebendige Erinnerungen
Und auch sonst überbrückte die Schiffsbesatzung die Tage an der Haderslebener Waterkant. Für Sepp, alias Josef, Ittner verbinden sich mit diesen beiden Wochen lebendig gebliebene Erinnerungen: „Ich hatte eine junge Frau kennengelernt, eine Volksdeutsche, deren Eltern in Hafennähe eine Gastwirtschaft betrieben. Leider habe ich sie nie wiedergesehen – und ihren Namen habe ich vergessen“, bedauert er.
Auch ein Wiedersehen mit der Domstadt Hadersleben hat es nie gegeben. Leider. „Ich habe mir immer wieder vorgenommen, die Stadt nach dem Ende des Krieges zu besuchen, aber daraus ist nie etwas geworden.“
Heimatlos
Mit der Befreiung Dänemarks von den deutschen Besatzern, die Ittner in Hadersleben erlebte, war seine persönliche Odyssee indes nicht zu Ende.
Der Sudetendeutsche stammt aus der Stadt Dux im Sudetenland, die dank Casanova eine gewisse Berühmtheit erlangte. 1945 war der junge Mann, der Flüchtlinge in sichere Häfen brachte, selbst heimatlos geworden. Sein Schiff wurde 1946 an Norwegen als Kriegsreparation übergeben und fuhr fortan unter norwegischer Flagge. Sepp Ittner kam in ein Flüchtlingslager nach Aarhus – und erst ein Jahr später, 1947, über Hamburg nach München. Seine Fahrkarte zahlte der einstige Feind: der Engländer.
Im Krieg war ich Zivilist, habe keine Uniform getragen. Erst die Amerikaner haben mir eine Uniform und einen Karabiner gegeben. Ich war viele Jahre lang mit den Amerikanern verheiratet.
Sepp Ittner
In Diensten des einstigen Feindes
„Die Amerikaner hatten mich gefragt, ob ich bei ihnen anheuern wollte“, erzählt Ittner. Er wollte – und wie! Der junge Mann arbeitete jahrelang als Unteroffizier im „Labour Service“ in Diensten der US-Army in Süddeutschland.
„Im Krieg war ich Zivilist, habe keine Uniform getragen. Erst die Amerikaner haben mir eine Uniform und einen Karabiner gegeben“, erzählt der Wahl-Augsburger: „Ich war quasi viele Jahre lang mit den Amerikanern verheiratet.“
In bester Erinnerung
Es ist eine „Ehe“, die bis ins hohe Alter gehalten hat. Ittner ist langjähriges Mitglied des Vereins „Amerika in Augsburg“, eines Vereins, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichte und Geschichten der 50-jährigen Präsenz der US-Streitkräfte in Augsburg, ihrer Angehörigen, der Augsburgerinnen und Augsburger, die diese Zeit miterlebten, zu dokumentieren und die Erinnerung daran für nachfolgende Generationen lebendig zu halten.
Auch die Tage der Befreiung im Haderslebener Hafen, die Sepp – oder Joe, wie ihn seine amerikanischen Kollegen später nannten – erlebt hat, sind dem heute 95-Jährigen in bester Erinnerung geblieben.