Deutsche Bücherei

Buchtipp des Monats: Kleine Bücher mit großem Inhalt

Buchtipp des Monats: Kleine Bücher mit großem Inhalt

Buchtipp des Monats: Kleine Bücher mit großem Inhalt

Paulina von Ahn
Paulina von Ahn
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Ira Bogovic ist die Buchtipp-Geberin dieses Monats. Sie stellt zwei Bücher einer deutsch-polnischen Autorin vor. Foto: Ira Bogovic

Diesen Artikel vorlesen lassen.

In unserem neuen Format „Buchtipp des Monats“ widmen wir uns jeweils einem Werk, das die Expertinnen der deutschen Büchereien vorstellen. Im April kommt der Buchtipp von Ira Bogovic. Sie bringt zwei Bücher einer deutsch-polnischen Autorin mit, die sich mit persönlichen Geschichten von geflüchteten und verstoßenen Familien beschäftigen.

„Als ich davon erfuhr, dass wir über Bücher sprechen sollen, die uns kürzlich besonders gut gefallen haben, sind mir diese sofort eingefallen“, sagt Ira Bogovic, Bibliothekarin in der deutschen Zentralbücherei Apenrade, und präsentiert zwei Werke der deutsch-polnischen Autorin Sabrina Janesch. Die beiden Romane „Katzenberge“ und „Sibir“ haben sie am meisten überzeugt. In ihnen erzählt die Autorin die Geschichte ihrer eigenen Familie, die verschiedene Fluchtprozesse durchlaufen hat.

„In einer Familiengeschichte steckt im Grunde die Geschichte der ganzen Epoche. Deshalb liebe ich die Bücher auch. Man kennt zwar die Fakten der Vergangenheit, aber die Bücher liefern anhand persönlicher Erlebnisse konkrete Beispiele“, sagt die Bibliothekarin. 

Optimismus in schweren Zeiten

Sabrina Janesch ist die Tochter einer polnischen Mutter und eines deutsch-russischen Vaters. Obwohl ihre Werke sich mit düsteren Themen befassen, empfindet Ira Bogovic sie nicht als deprimierend: „Durch die Sprache der Autorin wird eine optimistische Stärke erzeugt. Sie stellt Menschen dar, die es schaffen, trotz schwieriger Umstände mit dem Leben fertigzuwerden.“ 

Die 39-jährige Autorin hat Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Polonistik studiert, und für ihre Schreibkünste zahlreiche Auszeichnungen erhalten.

„Das ist so eine Schriftstellerin, bei der man auf das nächste Buch wartet“, sagt Ira Bogovic. 

Sie stellt Menschen dar, die es schaffen, trotz schwieriger Umstände mit dem Leben fertigzuwerden.

Ira Bogovic

Am besten gefallen der Buchliebhaberin zwei Romane, in denen die Autorin ihre eigene Familiengeschichte in Worte fasst, indem sie einen Bogen zwischen den Erfahrungen ihrer Vorfahren und ihren eigenen spannt.

„Katzenberge“ und die Fremdheit im eigenen Haus

Der Hintergrund von „Katzenberge“ sind die Bürgerkriege in der Ukraine, während denen die damals dort lebenden polnischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Land vertrieben wurden. In Polen wiederum waren die Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht willkommen und wurden ebenfalls vertrieben – Richtung Westen. Die aus der Ukraine geflüchteten Polinnen und Polen haben sich in den verlassenen Höfen der vertriebenen Deutschen niedergelassen. Zu diesen polnischen Geflüchteten gehörte auch Sabrina Janeschs Großvater mütterlicherseits. In ihrem Roman erzählt sie von den Umständen, die ihn und seine Familie dorthin geführt haben, und wie sie mit der Situation umgegangen sind.  

„Katzenberge“ von Sabrina Janesch Foto: Ira Bogovic

„Das Gefühl, leerstehende Gebäude zu bewohnen, die Menschen gehörten, die auch selbst geflüchtet sind, aber sich fragen zu müssen, ob die irgendwann wieder zurückkehren und ihr Eigentum zurückhaben wollen“, ist ein Gefühl, dass die Autorin laut Ira Bogovic klar verdeutlicht. 

Rituale und Traditionen

„Janesch nutzt auch einige übersinnliche und mystische Elemente, die aber total gut in die Geschichte passen“, sagt die Bibliothekarin. „Der Großvater kam auf diesen Hof, den die Deutschen verlassen haben und sah überall den Geist des Deutschen, der sein Haus verteidigen will. Er fühlte sich durch ihn bedroht und war der Meinung, dass das jetzt sein Haus war.“ Sabrina Janesch berichtet von kleinen Ritualen, die die Familie durchgeführt hat, wie zum Beispiel eine Eule über die Tür zu nageln oder Gegenstände unter der Türschwelle zu verstecken.

„Das klingt für einen nüchternen Europäer wahrscheinlich abgefahren, aber für diese Menschen waren das Traditionen und Rituale“, erklärt Ira Bogovic. Auch in ihrer eigenen Kindheit habe es das gegeben: Nicht im Haus pfeifen oder nicht die Hand über der Türschwelle schütteln, sondern den Gast erst hereinbitten – „So Kleinigkeiten.“

„Sibir“ und die Suche nach Heimat

„Sibir“ erzählt die Geschichte des Vaters, dessen Familie aus der damaligen Sowjetunion deportiert wurde, da Stalin die Deutschen als Staatsfeinde betrachtete. Die Familie wurde nach Sibirien gebracht. Mitten im Schneesturm sind sie in einem fremden Land angekommen, dabei ist die Mutter verschwunden.

Die Autorin beschreibt das Trauma, deportiert zu werden, die Heimat zu verlieren und nicht erwünscht zu sein. 

„Der Vater wurde auch dort immer als Nazi oder Faschist beschimpft und in der Schule verprügelt“, erinnert sich Ira Bogovic. Sie erzählt von einem kasachischen Jungen, mit dem er sich angefreundet hat. Dieser kannte die Steppe und die Traditionen, und hat ihn durch diese Zeit getragen. Auch hier spielt die Mystik eine Rolle: Der Vater hört die Stimme seiner Mutter, die ihn in die Steppe ruft. Sein Freund ist immer an seiner Seite, weil er sich ohne ihn verlieren würde.

„Sibir“ von Sabrina Janesch Foto: Ira Bogovic

Die Bibliothekarin erinnert sich an eine Szene, die ihr besonders im Gedächtnis geblieben ist, in der der Vater, damals zehn Jahre alt, aus Hunger ein Marmeladenglas öffnet und daraus isst. Als die anderen bemerken, dass der Junge der Familie etwas weggegessen hat, haben sie ihn verstoßen. Das Schlimmste, was er machen konnte, war, das gemeinsame Essen wegzuessen und damit alle zum Tode zu verurteilen. 

„Sie haben ihn dann raus in die Steppe geschickt und da hat sein Freund ihn dann gefunden und gerettet“, erzählt sie. „Das hat sich bei ihm eingeprägt, dass es eine Todsünde ist, ein Marmeladenglas zu öffnen und daraus zu essen. Diese Erfahrung prägt ihn bis heute. Das muss man sich mal vor Augen führen, bei all den Essensresten, die täglich bei uns auf der Straße landen.“

Die Vergangenheit als ständiger Begleiter

Die Bücher beschreiben, wie die Vergangenheit die Eltern nie losgelassen hat. Sabrina Janesch schreibt, dass sie in ihrer Kindheit immer die Geschichten von damals erzählt haben, und das habe sie sehr geprägt. 

„Und das ist etwas, dass meine Schwester und ich auch erleben“, ergänzt Ira Bogovic. „Unsere Mutter ist aus Belarus und unser Vater ist Deutscher. Es war immer kompliziert und ungewiss, ob sie zusammenbleiben können. Mein Großvater wollte keinen Deutschen in der Familie haben, da er den Deutschen vorgehalten hat, dass sie den Krieg angefangen haben. Und „so einer kam ihm nicht ins Haus“, erzählt sie und beschreibt, dass sie sich in Janeschs Büchern wiederfinden könne.

Mehr lesen