Verkehrswende in der Praxis

Fahrradland Schleswig-Holstein: So weit sind wir schon gekommen

Fahrradland Schleswig-Holstein: So weit sind wir schon gekommen

Fahrradland SH: So weit sind wir schon gekommen

SHZ
Flensburg
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Ein Radweg voller Schneewehen im Jahr 2021, dem Jahr nach dem politischen „Go“ zum Radverkehr. Foto: Götz Bonsen /SHZ

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Der Radverkehr in Schleswig-Holstein soll mit Investitionen mehr als verdoppelt werden. Doch das allein reicht nicht. Eine kritische Bestandsaufnahme von zwei Redakteuren, die jeden Tag auf dem Rad sitzen.

Wenn politischer Mehrheitswille mit einem gesellschaftlichen Megatrend einhergeht, kann Großes entstehen. Die Jamaika-Koalition hat 2020 diesen Eindruck verstärkt, als sie ankündigte, den Radverkehr in Schleswig-Holstein trotz mieser Noten im ADFC-Fahrradindex innerhalb von zehn Jahren verdoppeln zu wollen.

„Deutschlands Rad-Land Nummer 1“ wolle man in dieser Zeit werden, sagte Verkehrsminister Bernd Buchholz (FDP) zur neuen Weichenstellung. Seine Fraktion gab hier vor allem berechtigte, touristische Zielsetzungen aus. Andreas Tietze (Grüne) setzte noch einen oben drauf:


Währenddessen wurden im selben Jahr deutschlandweit knapp zwei Millionen Pedelecs und mehr als 100.000 Lastenräder verkauft, die Elektroroller erklommen die Radwege. Fahrräder werden tendenziell schneller und breiter und mehr, der Platz nimmt ab.

Das stresst die Verhältnisse und offenbart latente Probleme auf den mehrheitlich desolaten, häufig einseitigen Radwegen mit Gegenverkehr, von denen es in Schleswig-Holstein 5200 Kilometer entlang der Fahrbahnen gibt. Die Sanierungskosten liegen derzeit bei 14 Millionen Euro im Jahr.


Aber diese Probleme bestehen seit Jahrzehnten, auch als Tourismus-Destination hat Schleswig-Holstein noch einige Schandflecken parat. Radreisen an den Küsten boomen zwar, doch ein vollgepackter Reiseradler muss sich etwa auf dem Weg nach Fehmarn mit Fußgängern und entgegenkommenden Radfahrern einen eingefassten Pfad von weit unter einem Meter Breite teilen. Bei Gegenverkehr wird es also selbst bei bester Radwandererlaune brenzlig.




Warum fahren Menschen nicht mit dem Rad?

Schleswig-Holstein hat viel zu bieten für Radfahrer. Zwar ist es nicht überall flach, doch die Steigungen sind moderat und die Landschaft wird reizvoll von kleinen Straßen durchzogen. Durch technische Entwicklung mit Pedelecs, Gravelbikes, Lastenrädern und nicht zuletzt kindgerechten Rädern ist das Velo zudem auch universeller geworden und damit auch auf längeren Strecken einsetzbar. Bisweilen liegt der Radverkehrsanteil dennoch bei nur 13 Prozent, er ist seit 2008 sogar leicht gesunken.



Das Land investiert derzeit hohe Beträge in Lückenschlüsse von Radwegen an Landstraßen. Der Neubau von Strecken, sagt Buchholz, wird trotz Millionenmitteln aber die Ausnahme bleiben.

Auch auf den Dörfern rollen wie selbstverständlich die Eltern-Taxis an und parken den Weg vor den Schulen zu. Wer setzt seine Kinder bei nicht strikter Trennung vom immer dichter werdenden Autoverkehr auf ein Fahrrad, damit es eigenständig zur Schule fahren kann?

Ein Generationenprojekt

Wandel müsste sofort passieren, doch neue, physisch vom motorisierten Verkehr getrennte Radwege, Fahrrad-Parkflächen und selbst die Aufstellung der 10.000 geplanten Fahrradbügel erfordern sorgfältige Planung mit lokalen Rad-Akteuren – sofern es welche gibt.

Dann folgen Planungsbeschlüsse, Landkäufe, mögliche Enteignungen, Ausschreibungen, politische Mehrheitswechsel, Fehlplanungen mit Schwarzbucheintrag: Schleswig-Holstein fit fürs Fahrrad zu machen, ist ein Generationenprojekt.

Insbesondere beim Rad – so die Lektion aus Dänemark – folgt der induzierte Mobilitätswandel immer erst, wenn für zwei Faktoren gesorgt ist: Fahrradfahren muss praktisch und sicher sein. So sicher mindestens, dass Eltern ihre Kinder in einer gewissen Selbstverständlichkeit eigenmächtig in die Schulen radeln lassen würden.


Ein Leuchtturm wie die Veloroute 10 in Kiel verkörpert all dies, aber als Fahrrad-Stadt mit internationaler Strahlkraft geht die Landeshauptstadt damit nicht durch. Auch ein holpriger Radweg über Land, der im Winter tage- oder wochenlang von Schnee und Eis bedeckt und im Sommer von hohem Gras überwachsen ist, wird nicht dafür sorgen, dass der Modal Split (Anteil am gesamten Verkehrsmarkt) auf 30 Prozent steigt.


Auf die Kommunen kommt es an

Während an den Landesstraßen sichtbare Fortschritte gemacht werden, hapert es in den Gemeinden und Städten. In den wirkungsmächtigen Kommunen fehlt oft das Auge fürs Rad und Fördergelder bleiben liegen.

Schließlich kann das Ministerium Vorhaben an Straßen, die nicht Bundes- oder Landstraßen sind, nur fördern aber nicht umsetzen. Das lokale Ausmaß ist an der Verödung der Radwege und fehlenden Initiativen aus den Gemeinden gut sichtbar. Umverteilungen des öffentlichen Raum sind in Städten wie Dörfern immer mit unerwünschten Konflikten verbunden.

2020 wurden laut Verkehrsministerium über das Förderprogramm für den kommunalen Straßenbau zwar insgesamt rund 4,2 Millionen Euro Fördermittel für reine kommunale Radwegmaßnahmen bewilligt, 81 Prozent der Summe flossen allerdings allein in die Veloroute 10 in Kiel.



In diesem Jahr sind 2,5 Millionen an Landesfördermitteln eingeplant, wie viel davon abgerufen wird, ist bisweilen unklar.

Die konsequente Sanierung und zeitgemäße Anpassung der kaputten Pfade wäre angesichts der politischen Unternehmungslust ein praktikableres Unterfangen. Bei Landesstraßen sind die Restaurationen aber gebunden an gleichzeitige Sanierungen der nebenliegenden Fahrbahnen.



Neue Asphaltdecken platzen weiterhin schon nach Monaten durch hochschießenden Löwenzahn und Wurzelaufbrüche auf. Und auch wenn das Land inzwischen auf 2,5 Meter als Mindestbreite besteht: Zwischen Husum und Viöl wurde zuletzt für 2,8 Millionen Euro ein Radweg saniert und bei zwei Metern belassen.

Ein ehemaliger maroder Radweg in der Mürwiker Straße in Flensburg wurde zwar erneuert, da er aber nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen entspricht, wurde der 1,5 Meter breite Weg mit einem „Fahrrad frei“, Schild gekennzeichnet. Der gemeine Radfahrer darf also die Fahrbahn benutzen, Schritttempofahrende wie Kinder den alten Weg.

Die Kunst der Umwidmung

Für das geplante Mammut-Projekt, das 300 Kilometer lange Netz aus Radschnellwegen in der Metropolregion Hamburg, liegen nun die Machbarkeitsstudien auf dem Tisch. Baubeginn ist frühestens in zwei Jahren auf einem Teilabschnitt. In der Regel werden die Turbowege vier Meter breit und beleuchtet sein, vier Radfahrer können im Zweirichtungsverkehr einander passieren. Das könnte der große Wurf sein, doch die Fertigstellung wird noch viele Jahre dauern.

Aber Strukturwandel kann auch ganz schnell gehen – wenn man vorhandene Strukturen zurückwidmet – wovon es gerade in Schleswig-Holstein mehr als reichlich gibt.



Während eine Stadt wie Flensburg nur eine einzige, 100 Meter lange, Fahrradstraße hat, gibt es im ländlichen Umland eine Initiative, die aufhorchen lässt. Kurzerhand wurde nach den Vorstellungen der Initiative „Boben Op“ die kurvige Wirtschaftsstraße zwischen den Dörfern Hürup und Tastrup auf drei Kilometern als Fahrradstraße umgewidmet.

Nur Reiter und Anlieger dürfen diesen Premium-Radweg mit drei Metern Musterbreite neben den Schülern, Pendlern, Anwohnern Touristen und Studierenden auf dem Rad nutzen. Es ist nur ein Schild an einer ohnehin wenig befahrenen Straße – aber es setzt Prioritäten und könnte Vertrauen unter Radfahrenden aller Altersgruppen schaffen.

Um am Ende wie geplant die Dörfer Husby, Weseby, Hürup und Tastrup auf dieser Route mit Flensburg verbinden zu können, bedarf es dann doch einiger Bauarbeiten, dazu gehört eine Querverbindung zu einer anderen Straße, damit Radler den bestehenden Tunnel unter der K90 verwenden können. Die Überquerung dieser Schnellstraße – an der die provisorische Fahrradstraße derzeit beginnt – ist insbesondere für Kinder und Ältere derzeit sonst nicht machbar.

Die Macht der Unbeschwerlichkeit

Viele der zu erbringenden Verbesserungen für Radfahrende, um die Standards unserer Nachbarländer zu erreichen, sind erstmal unsichtbar oder unbedeutend, doch sie machen am Ende einen Unterschied.


Fahrbahnbegleitende Radwege, die sich an jeder Einfahrt zu einem Grundstück absenken und den Tritt-Rhythmus stören, gibt es in Dänemark selten. Dort senkt sich der Bordstein erst an der Fahrbahn ab. Und eine Grüne Welle sucht der Radfahrer in SH ebenfalls vergebens.

Nicht nur auf dem Land, auch in der Stadt tut man sich schwer mit der Verkehrswende. In Flensburg hat die Stadt in einer großen Aktion zuletzt Fahrrad-Piktogramme auf die Straßen gepinselt und Überwege rot eingefärbt, um die Sicherheit für Radfahrende im Verkehr zu erhöhen.


Radfahrer haben nun an vielen Stellen die Wahl, ob sie auf maroden, schmalen Radwegen fahren möchten oder auf der Straße. Auch Autofahrer scheinen zu akzeptieren, dass nun vermehrt Radfahrende ihren Platz einfordern. Die Legitimation dazu ist weiß markiert. Weil Farbe allerdings keine wirkliche Trennung vom Autoverkehr bedeutet, ist eine wirkliche Verbesserung für Radfahrende damit nicht einhergegangen.

Flensburgs Versuche

Von einem Verkehrsfluss kann man nicht sprechen. So enden manche Radwege abrupt oder werden an gefährlichen Stellen auf die Fahrbahn verschwenkt. Beispiele dafür finden sich in Flensburg etwa in der Marienallee oder Werftstraße. Auf dem Land ist ein Paradebeispiel in einer Senke auf der Fördestraße bei Neukirchen zu finden.

Die Stadt tut sich schwer mit der Umwidmung bestehender Infrastruktur. In Kielseng wurde 2015 die Idee eines Express-Radwegs von Mürwik in Richtung Zentrum abgelehnt – die Straße blieb vierspurig für den Autoverkehr. Traurig: Der marode Radweg neben der Straße ist noch heute nicht durchgehend saniert.

Ein weiteres Beispiel ist der Bahndamm, der sich von der Hafenspitze bis nach Weiche im Westen der Stadt zieht. Seit Jahren wird hier über eine bahnbrechende Veloroute nachgedacht, die ampelfrei quer durch die Stadt verlaufen und einen enormen Zugewinn für den Radverkehr bedeuten könnte. Da der Damm allerdings nicht der Stadt gehört und die Bahnstrecke möglicherweise reaktiviert werden soll, liegen die Pläne auf Eis.


Die Trägheit der Stadt wird auch an einem Provisorium deutlich, das seit 2014 besteht. In der Heinrichstraße wird der Rad- und Fußverkehr unter dem Bahndamm hindurch mit rot-weißen Leitborden geführt. Ursprünglich sollte in den Damm mal ein Tunnel gebaut werden. 2017 schrieb unsere Zeitung: “Das Ende des Provisoriums naht”. Jetzt, im Sommer 2021 ist die Notlösung weiterhin präsent.

Das Problem ist auch hier der Bahndamm, dessen Gleise bis heute durch die Stadt nicht entwidmet werden konnten. Ein Tunnel ist dadurch erstmal in weitere Ferne gerückt.

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