Tag der seelischen Gesundheit

Jeder Dritte kämpft mit einer psychischen Störung – das lange Warten auf Hilfe

Jeder Dritte kämpft mit einer psychischen Störung – das lange Warten auf Hilfe

Jeder Dritte kämpft mit einer psychischen Störung

SHZ
Bad Bramstedt
Zuletzt aktualisiert um:
Menschen mit seelischen Erkrankungen warten oft viele Monate auf einen Therapieplatz. /Symbolbild Foto: Julian Stratenschulte/dpa Foto: Julian Stratenschulte/dpa

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In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der von psychischen Erkrankungen Betroffenen kontinuierlich zugenommen. Corona hat die Situation zusätzlich verschärft.

Wer Thore auf Instagram folgt, sieht einen fröhlichen jungen Mann, der auf der Ostsee wellenreitet, Radtouren durch die Marsch unternimmt und im Kirchenchor singt. Was man ihm nicht ansieht: Er leidet an Depressionen. Seit 15 Jahren lebt er mit der Krankheit. In den ersten zehn Jahren hat er sich verkrochen, hatte Angst als „verrückt“ abgestempelt zu werden. Dann fand er einen Therapeuten, der ihm hilft.

Corona verschärft das Problem

Angst- und Suchterkrankungen, Depression und Schizophrenie sind Volkskrankheiten. Jeder Dritte ist im Laufe des Lebens von einer psychischen Störung betroffen. Pro Jahr werden bundesweit 13.000 Menschen erstmals mit dieser Diagnose konfrontiert.

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„Dennoch werden seelische Erkrankungen häufig verschwiegen, weil sie zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führen – mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen, ihre Angehörigen und unsere Gesellschaft “, erklärt Doktor Roy Murphy, Leitender Psychologe an der Fachklinik für Psychosomatik in Bad Bramstedt anlässlich des Welttags der seelischen Gesundheit am 10. Oktober. Der Tag wurde vor 30 Jahren von der WHO initiiert und soll anregen, offen über seelische Nöte zu reden, über verfügbare Hilfen und eben über das, was heilt und gut tut.

„Psychische Erkrankungen führen zu erheblichen Einschränkung der Lebensqualität“, berichtet Murphy. Die Zahl der Betroffenen habe in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich zugenommen, allerdings vor allem, weil Menschen offener mit ihrer Krankheit umgehen und Hilfe in Anspruch nehmen. „Derzeit erleben wir aber einen neuen Schub durch Corona“, warnt der Psychotherapeut. Durch die Lockdowns im Zuge der Pandemie sei die selbstgewählte Isolierung nicht nur verstärkt worden, sondern zugleich auch der Zugang zu Beratung und Therapie deutlich schwerer geworden.

Kapazitäten erschöpft

Diese Zunahme bekommen ambulante und stationäre Einrichtungen hautnah zu spüren. „Schon vor Corona waren unsere Kapazitäten voll ausgelastet, jetzt hat sich die Lage noch einmal verschärft: wir haben Wartezeiten von zehn Monaten“, berichtet Murphy. Und Besserung ist nicht in Sicht. Er ist überzeugt:


Das Problem: Unser Gesundheitssystem reagiert auf solche Herausforderungen sehr träge. „Laut Bettenbedarfsplan des Landes dürfen wir unser Angebot nicht ausweiten, dabei benötigen wir dringend mehr Möglichkeiten für Notfallkontakte“.

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Unterschiede bei Männern und Frauen

„Beim Umgang mit psychischen Erkrankungen gibt es oft Unterschiede zwischen Männern und Frauen“, erklärt Arno Deister, Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit. Männer versuchten häufig, Dinge zu verbergen und kompensierten Gefühle auf destruktive Weise – etwa mit Alkoholkonsum. Auch die Gefahr von aggressiven Handlungen sei bei ihnen größer als bei Frauen. „Übertriebener Sport zählt ebenfalls zu den möglichen Anzeichen seelischer Belastung bei Männern: Sie gehen dann teils über ihre Grenzen hinaus in Bereiche, die nicht mehr gesund für sie sind“, so der Professor.

Bei Frauen entwickelten sich häufiger auch Angstsymptome, die dann stärker zum Rückzug führten. Sie versuchten eher, das mit sich selbst auszumachen. „Schuldgefühle entwickeln sich dann häufig“, sagt Psychiater Deister.

„Gemeinsam über den Berg“

Das Motto des diesjährigen Tags der Seelischen Gesundheit lautet: „Gemeinsam über den Berg – Seelische Gesundheit in der Familie“. Dr. Murphy sieht eine „Riesenchance innerhalb der Familie Halt zu finden, wenn sich alle wieder auf die Werte besinnen, die Familie ausmachen, nämlich Toleranz, Zugehörigkeit und gegenseitige Rücksichtnahme“. Das bedeutete jedoch nicht, sich tagtäglich auf die Pelle zu rücken. Das könne belastend sein und in Gewalt und Alkoholkonsum münden. „Besonders wenn Jugendliche in Ruhe gelassen werden wollen, sollten Eltern das tolerieren!“

Bei Thore war es übrigens die Großmutter, die irgendwann sein Leid erkannte und ihn überredete, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Während des Lockdowns konnte er zum Glück mit dem Therapeuten per Videosprechstunde in Kontakt bleiben. Damit ging es ihm deutlich besser als vielen Leidensgenossen, die im Lockdown psychisch an ihre Grenzen kamen. „Plötzlich wurden sie ins Homeoffice geschickt, mussten Kinder im Homeschooling helfen und hatten existentielle Sorgen. Die Folgen – wie Ess- oder Angststörungen sehen wir jetzt“, sagt Murphy. Die Pandemie sei für ihn noch nicht vorbei.

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Leitartikel

Gwyn Nissen
Gwyn Nissen Chefredakteur
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