Kultur

Kulturelle Aneignung? Wie die Karl-May-Spiele mit der Debatte umgehen

Kulturelle Aneignung? Wie die Karl-May-Spiele mit der Debatte umgehen

Kulturelle Aneignung? Wie die Karl-May-Spiele damit umgehen

Martin Schulte
Bad Segeberg
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Berühmte Blutsbrüder: Winnetou (Pierre Brice, links) und Old Shatterhand (Lex Barker). Foto: obs

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Schon seit vielen Monaten wird über die Stereotypen bei den Karl-May-Filmen öffentlich diskutiert. Wir haben den Verantwortlichen in Bad Segeberg gesprochen.

Der Bart ist ziemlich lang geworden. „Für eine neue Rolle“, sagt Nicolas König und streicht sich beiläufig über die graumelierte Gesichtsbehaarung. König ist gerade aus Prag zurückgekommen, dort hat er für eine neue Serie vor der Kamera gestanden, in der die Nibelungensage aus der Perspektive Hagens, der den Drachenjäger Siegfried erschlägt, erzählt wird.

Das Projekt basiert auf dem Roman „Hagen von Tronje“ von Wolfgang Hohlbein. „Dieses Buch hat einen interessanten Ansatz, weil die bekannte Geschichte mit ganz anderen Augen betrachtet wird“, sagt König, während er an einem kalten Dezembertag durch die leeren Zuschauerreihen der Bad Segeberger Kalkberg-Arena geht.

Die Geschichte mit anderen Augen betrachten, das muss Nicolas König jetzt auch, denn er wird in diesem Jahr erstmals Regie am Kalkberg führen – und das ausgerechnet mit „Winnetou 1: Blutsbrüder“, der Ausgangserzählung aller Winnetou-Mythen. „Das ist ein echter Rollenwechsel für mich“, sagt König.

Er ist seit 1992 dabei, 30 Jahre mittlerweile, aber stets als Schauspieler. Im vergangenen Jahr etwa, als das Virus noch umging, war er immer dann eingesprungen, wenn ein Ensemblemitglied wegen einer Corona-Infektion ausfiel. Am Ende hat er vier verschiedene Rollen gespielt und dabei große Wandlungsfähigkeit bewiesen. „Ich habe schon alles erlebt auf dieser Bühne“, sagt er: „Aber die vergangene Spielzeit war wirklich außergewöhnlich.“

Öffentliche Diskussion um Stereotpypen

Auch weil da dieses Thema war, über das sie eigentlich gar nicht so gerne reden im Bad Segeberger Wilden Westen: Die öffentliche Diskussion um die Erzählungen und Stereotypen, die durch Karl Mays Winnetou-Geschichten verbreitet werden. „Es kommt dabei oft zu Missverständnissen. Und wir wollen diese Sache nicht größer machen, als sie ist“, sagt Michael Stamp, der nicht nur Pressesprecher bei den Karl-May-Spielen ist, sondern auch seit über zwei Jahrzehnten Autor der Stücke, die jedes Jahr aufgeführt werden. 

Stamp setzt den Ton der Geschichten, die natürlich immer nur Destillate der Romane sein können: Gut gegen Böse, Wild-West-Romantik und, ja, natürlich auch stereotype Charaktere.

Ein Buch wird zurückgezogen und der Streit beginnt

Trotzdem wurde im vergangenen Jahr noch eine andere Geschichte auf der Kalkberg-Bühne erzählt als die des „Ölprinzen“, die ganz offiziell auf dem Spielplan stand. Es war eine, die im August von außen über die Festspiele kam. Da nämlich machte der Ravensburger Verlag Schlagzeilen, weil er von jetzt auf gleich ein Kinderbuch aus dem Programm nahm, das den Titel „Der junge Häuptling Winnetou“ trug.

Dem Verlag war in den sozialen Medien vorgeworfen worden, rassistische Stereotype über die Ureinwohner Nordamerikas wiederzugeben und der kulturellen Aneignung Vorschub zu leisten, was die Übernahme von typischen Merkmalen der Kultur der Ureinwohner umschreibt.

Cancel Culture

Ravensburger hatte dem hell brennenden Lagerfeuer der öffentlichen Empörung nicht viel mehr entgegenzusetzen als ein großes und uneingeschränktes Schuldeingeständnis – und erntete daraufhin noch mehr Kritik.

Von Cancel Culture war die Rede, von kultureller Selbstzensur also; sogar das Bild der Bücherverbrennungen wurde bemüht, was lediglich ein weiteres Indiz dafür war, wie oft die Debatten um Rassismus und kulturelle Aneignung in Ton und historischer Genauigkeit verrutschen.

Argumentation aus der sicheren Wagenburg

Am Ende dieser öffentlichen Auseinandersetzung, in der alle Beteiligten aus der jeweils eigenen, vermeintlich sicheren Wagenburg argumentativ wild durcheinander schossen, ließ sich folgendes festhalten: Zwei qualitativ eher bescheidene Franchise-Bücher waren direkt nach ihrem Erscheinen wieder vom Markt verschwunden, während der gleichnamige Kinofilm „Der kleine Häuptling Winnetou“ sogar noch mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ geadelt wurde.

Bemerkenswert war außerdem, dass weder Film noch Bücher bis auf die Namen der Protagonisten eine relevante Verbindung mit den Geschichten Karl Mays hatten. Aber auch das war am Ende egal. Denn längst wurde laut darüber gestritten, ob Karl May überhaupt noch eine geeignete Literatur für Kinder und Jugendliche sei, während der Boulevard sicherheitshalber und in großen Buchstaben forderte: „Winnetou darf nicht sterben!“

Karl May und die historische Genauigkeit

Und in Bad Segeberg bei den Karl-May-Spielen blieb es trotz des gewaltigen öffentlichen Pulverrauchs erstaunlich still. Die Verantwortlichen verschickten ein kurzes öffentliches Statement, mehr nicht. „Das Thema kam drei Wochen vor Ende der Spielzeit auf, da waren wir alle mit unseren Vorstellungen und den vielen coronabedingten Umbesetzungen beschäftigt“, sagt Pressesprecher Stamp. Es gab Tage, da wussten die Verantwortlichen nicht, wer abends auf der Bühne stehen kann.

Eine große Rolle habe die öffentliche Debatte deshalb nicht gespielt, „zumal das Ensemble und das Publikum ohnehin wissen, was wir hier aufführen.“ Keine historischen Abrisse über Amerikas Geschichte nämlich, erklärt Regisseur König, „sondern eine Art Märchen, mit einfachen Geschichten und Aussagen.“ Aber immer im Sinne Karl Mays. Dieser sei, was das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen und Gesellschaften angeht, seiner Zeit weit voraus gewesen.

Und die Protagonisten dieser Geschichten seien außerdem deutlich überzeichnete Superhelden: „Old Shatterhand trifft mit einem alten Gewehr aus 200 Metern Entfernung drei Mal auf die gleiche Stelle – das ist das, was man heute als Superkraft bezeichnen würde.“

Braucht es derzeit nicht eher mehr Winnetous?

Eine durchaus mutige Interpretation des Regisseurs, der sich schon viele Gedanken über seine Aufgabe und die Umsetzung des Stoffes gemacht hat: „Ich habe bereits einige Ideen und freue mich darauf, mit dem Ensemble daran zu arbeiten“, sagt König.

Auch Michael Stamp wird dann dabei sein, er kennt die Winnetou-Geschichten aus seiner Arbeit mit den Originaltexten wohl wie kaum ein anderer. Und er verteidigt den Autor gegen die öffentliche Kritik.

„Im Prolog von Winnetou I beklagt Karl May die Verbrechen der Europäer an den indigenen Völkern in Amerika. Ich kenne niemanden, der sich so mutig gegen das Establishment gestellt hat“, sagt er. Man müsse des Autors Werk im historischen Kontext bewerten, findet Stamp: „Dann wird noch deutlicher erkennbar, dass Karl May ein mutiger Vorreiter der Völkerverständigung war.“ Es scheint, als bräuchte es derzeit eher mehr als weniger Winnetou-Figuren.

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